Abseits der urbanen Zentren Indiens erkundet die aus Chandigarh stammende Künstlerin und Fotografin Gauri Gill (*1970) seit über zwei Jahrzehnten das Leben und den Alltag der ländlichen Bevölkerung. Ihre stillen, konzentrierten Bilder richten den Blick auf kaum wahrgenommene Randbereiche der indischen Gesellschaft veröffentlicht in dem Buch
In einem offenen, kollaborativen Prozess und entgegen dokumentarischen Konventionen widmet sie sich Themen wie Überleben und Selbstbehauptung, Identität und Zugehörigkeit, aber auch konzeptuellen Fragen nach Erinnerung und Autorschaft. Die Dimension der Zeit und serielle Kontinuität sind ebenso wie
Beharrlichkeit und Empathie entscheidende Faktoren ihrer künstlerischen Praxis.
Fundament ihrer Arbeit und Ausgangspunkt mehrerer Fotoserien ist das archivarische Langzeitprojekt Notes from the Desert, indem sich Gill seit 1999 den marginalisierten Gemeinschaften Rajasthans im westindischen Grenzgebiet widmet. Insbesondere ihre freundschaftlichen Beziehungen zu Frauen bringt die Künstlerin hier, wie in ihrem gesamten Werk, in persönlichen Porträts zum Ausdruck. Als Gegenpol zu ihren Projekten in der Wüste widmet sich die Fotoserie The Americans (2000–2007) der vielfältigen Lebenswelt der indischen Diaspora in Hinblick auf Migration, Heimat und kulturelle Verbundenheit. Das Buch und die Ausstellung zeigen zudem Gills kollaborativen Ansatz, u. a. in der Zusammenarbeit mit oft unbekannten Künstlerinnen und Künstlern aus ländlichen Regionen. In ihrem jüngsten Werkkomplex Acts of Appearance (2014) etwa bezieht sie Masken von Pappmaché-Künstlern der Kokna-Gemeinschaft in Jawhar, Maharashtra in improvisierte Alltagsszenen ein und entwirft so einen faszinierenden Dialog zwischen Wirklichkeit und Fiktion.
Esther Schlicht
Aus dem Text Im Schutz der Bilder. Gauri Gill und die Fotografie als Maske von Esther Schlicht:
Die Maske, selbst zugleich Oberfläche und Bild, wirft uns Betrachtenden unseren voreingenommenen Blick zurück und macht uns die eigene Position, auch in ihrer ethischen Dimension, bewusst.Masken können zur Kommunikation einladen, aber auch Distanz erzeugen. Sie verschaffen Sichtbarkeit und bieten gleichzeitig Schutz. In diesem Sinne kann das Motiv der Maske auch als Metapher für Gauri Gills künstlerischen Ansatz und ihren Gebrauch der Fotografie schlechthin dienen.
Nicht nur in Fields of Sight und Acts of Appearance, wo die Dargestellten im Schutz ihrer eigenen künstlerischen Produktion stehen, auch in anderen Arbeiten setzt Gill die Ambivalenz von Zeigen und Verbergen als bildnerische Strategie ein. Sei es durch die Wahl von Bildausschnitten, die den Blick vom Zentrum des Geschehens ablenken, sei es, indem sie Menschen von hinten, mit verdecktem Gesicht oder nur schemenhaft zeigt, oder sei es durch die gezielte Auswahl einzelner Aufnahmen aus dem Fundus eines schier unerschöpflichen Archivs,welches in seiner Gesamtheit im Verborgenen bleibt. Gills Bilder zeigen immer auch,was sie nicht zeigen,und erinnern uns stets daran,wie eingeschränkt unser Sichtfeld ist. Dem Anliegen der Künstlerin,unsichtbare Mikrogeschichten ins Licht zurücken und Räume zu schaffen, in denen vielfältige und hybride Lebenswirklichkeiten Ausdruck finden, ohne unseren Blicken schutzlos ausgeliefert zu sein, dient die Fotografie – als Maske.
Gauri Gill
Acts of Resistance and Repair
Herausgegeben von Esther Schlicht
Texte von Alexander Keefe, Luise Leyer,Jisha Menon,
Esther Schlicht
Gestaltet von Nicola Reiter & Ursula Pfingstgraf
Englische Broschur mit Schutzumschlag
22 x 30 cm, 268 Seiten
110 Farb- und 159 S/W-Abbildungen
Deutsch, Englisch
Kehrer Verlag
ISBN 978-3-96900-099-1
Euro 45,00