Als Grenzüberschreitend bis in die Nähe des Tabubruchs nennt auch Foto Arsenal Wien seine Ausstellungen „Gundula Schulze Eldowy: Schattenwinde“ und „Mari Katayama: Mine and Yours“ im Rahmen des „Foto Wien“ Festivals, die am 31. August eröffnen. Foto Wien wird vom neuen Zentrum für Fotografie und Lens Based Media veranstaltet. Gundula Schulze Eldowy, eine der wichtigsten Vertreterinnen der deutschen Dokumentarfotografie, ist mit ihrer ersten institutionellen Einzelausstellung in Österreich zu sehen. Parallel zeigt die viel beachtete japanische Multimedia Künstlerin Mari Katayama eine Auswahl ihrer aufwändig gestalteten Selbstinszenierungen. In ihren schonungslosen Erkundungen von Zuständen hinterfragen die beiden Künstlerinnen Wahrnehmungen, Normen und Konventionen. Sie zeigen Gegenbilder voller Irritationen, Provokation und Poesie.
Gundula Schulze Eldowy: Schattenwinde. Berlin und der Osten 1979-1990
Ein mageres Schaf auf dem Schlachthof, Balletttänzerinnen in einer Tanzschule, Arbeiter in großen Industrieanlagen, ein blutiger Kreissaal – zwischen den späten 1970er Jahren und dem Zerfall der DDR analysiert Gundula Schulze Eldowy (*1954) in verstörenden Bildern den Zustand eines Landes. Ohne Auftrag bewegt sich die junge Frau an die Grenzen von Tabus. Ost-Berlin und der Osten Deutschlands gleichen einer verlorenen archäologischen Stätte, die manchmal unerwartet bezaubernd ist. Es entstehen Reportagen von einer untergehenden, unbekannten, unter Verschluss gehaltenen Welt. Zugleich sind diese urbanen Streifzüge nichts anderes als Ausflüge in die innere, fremde Welt der Künstlerin, immer mit Augenmerk auf Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Verfall, Einsamkeit, Armut, Skurriles, Zeugnisse des ostdeutschen Alltags. Gundula Schulze Eldowy produziert Gegenbilder zu der staatsoffiziellen, gewünscht idealisierten Sicht auf die DDR; sie werden häufig zu Metaphern, die weit über den Zustand des Landes hinaus die Entfremdung des Menschen in der modernen Zivilisation im Blick haben.
Die zivilisationskritischen Bilder, die Gundula Schulze Eldowy überwiegend in Ost-Berlin und später auch in Dresden und Leipzig aufgenommen hat, gehen oft an die Grenzen des Erträglichen. Sie zeigen Zuneigung und erscheinen frei von jeglicher Scham.
Foto Arsenal Wien präsentiert zwei Hauptzyklen der Künstlerin erstmals in Österreich: Für „Der große und der kleine Schritt“ fotografiert Schulze Eldowy 1982-1990 in Industrieanlagen, Ballettschulen, Kreissälen, Schlachthäusern und auf der Straße inostdeutschen Städten – als eine der wenigen Künstler:innen der DDR in Farbe und als einzige Frau. Anfang der 1980er Jahre freundete sie sich mit Tamerlan an, deren Leben sie einige Jahre lang dokumentiert und die sie bis zu ihrem Tod begleitet. Die gleichnamige Porträtserie ist aus dieser prägenden Begegnung entstanden.
Gundula Schulze Eldowys fotografisches Werk ist in internationalen Sammlungen u.a. MoMa New York vertreten.
Ausstellungen zuletzt u.a. Halt die Ohren steif!!: Robert Frank und Gundula Schulze Eldowy in New York in Kunsthalle Erfurt und Photobastei, Zürich (2018/2019), Corps impatient im Rahmen der Rencontres de la Photographie, Arles (2019).
Auszeichnungen u.a. Overseas Photographers of Higashikawa Photo Fiesta 1996. Neben der fotografischen und filmischen Arbeit entstanden Erzählungen, Gedichte, Aufsätze, Ton-Collagen und Gesänge. Gundula Schulze Eldowy lebt in Berlin und Peru.
Die Ausstellung in Wien umfasst ca. 120 Aufnahmen und eine Videoarbeit.
Mari Katayama: Mine and Yours
Die inszenierten Selbstporträts der japanischen Künstlerin Mari Katayama (*1987) stehen nur vordergründig im Kontrast zu Gundula Schulze Eldowys schonungslosen Reportagen über ein zerfallendes Land.
Im Zentrum von Katayamas Praxis steht die alltägliche Erfahrung des Lebens in ihrem eigenen Körper, den sie als lebende Skulptur, Schaufensterpuppe und Instrument zur Reflexion der Gesellschaft nutzt. In ihren aufwändigen Selbstporträts platziert sie sich inmitten einer Reihe von sorgfältig konstruierten, selbst genähten Objekten wie einer lebensgroßen Puppe. Die Kombination von Katayamas Objekten und Fotografien fordert den Betrachter heraus, den Körper und seine komplexe Beziehung zu Umwelt und Gesellschaft zu hinterfragen.
Nach der Amputation ihrer Unterschenkel aufgrund einer tibialen Hemimelie im Alter von neun Jahren verbarg Katayama ihre körperliche Beeinträchtigung, damit sie wie „alle anderen“ leben konnte. Erst im Alter von sechzehn Jahren begann sie, bewusst zu schaffen und sich als Künstlerin zu sehen. Seitdem nutzt Katayama ihren Körper, der ständig seine Form, Größe und Rolle in der Gesellschaft verändert, als kreatives Mittel, um sich der Gesellschaft zu nähern, sie zu reflektieren und mit ihr in Verbindung zu treten.
Gleichzeitig will sie über diesen Weg auch unsere Besessenheit von (künstlich hergestellter) Schönheit erforschen. Obwohl Katayamas Arbeit persönliche Angelegenheiten als Ausgangspunkt nimmt, sind diese persönlichen Angelegenheiten nicht ihr Thema. Der Kern der Fragen und Perspektiven, die sich aus ihren Arbeiten und ihrem Wirken ergeben, ist stets auf die Gesellschaft gerichtet.
Mari Katayamas Tätigkeit weitete sich allmählich von Selbstporträts auf das Fotografieren der Körper anderer Menschen aus, sie begann für ihre Arbeiten die Hilfe von anderen einzubinden. Diese Erfahrungen, zusammen mit der allmählichen Erweiterung ihres Arbeitsstils, ließen Mari Katayama sowohl die Schwierigkeit als auch die Kraft des „Zusammenlebens“ verstehen. Schließlich konnte sie nicht mehr sagen, dass ihr Körper ihr gehört, weil seine Vitalität durch zahlreiche Menschen und Mechanismen ermöglicht wird, wie Orthopädie-Techniker, die ihren Körper besser kennen als sie selbst, oder Behindertenfürsorgesystem, Familie und Freunde.
Katayamas Bilder und Objekte beschäftigen den Betrachter mit grundlegenden Fragen über den Körper und die komplexen mit ihm verbundenen Themen, wie z. B. vorurteilsbehaftete Blicke, soziale Etikettierungen und das, was als richtig oder falsch angesehen wird. So wie Mari Katayama bei der Herstellung von Objekten jeden einzelnen Stich spürt, spiegelt und verdeutlicht die Erfahrung ihrer Arbeit Haltungen und gesellschaftliche Rollen.
Mari Katayama lebt in Gunma, Japan. Ihre Werke befinden sich in den Sammlungen internationaler Museen, darunter die Tate Modern in London. Nach großen Präsentationen im Maison Européenne de la Photographie in Paris im Jahr 2021 und der achtundfünfzigsten Biennale von Venedig umfasst die Ausstellung in Wien rund dreißig Fotografien und Installationen.
Eckdaten der Ausstellungen
Gundula Schulze Eldowy: Schattenwinde. Berlin und der Osten 1979-1990
Mari Katayama: Mine and Yours
1.9. – 19.11.2023, täglich außer Montag 11–19 Uhr,
MQ Freiraum und MQ Salon, MuseumsQuartier Wien
Kurator der Ausstellungen: Felix Hoffmann, Artistic Director Foto Arsenal Wien
Eintrittskarten an der Tageskasse und im MQ Shop 10 Euro regulär, 5 Euro ermäßigt
Öffentliche Führungen (DEU) jeden Sonntag 16 Uhr, Eintritt frei, ohne Anmeldung
Eröffnung: 31.8.2023, 19 Uhr, durch Veronica Kaup-Hasler, Stadträtin für Kultur und Wissenschaft der Stadt Wien
Mehr zu den Künstler:innen
www.gundula-schulze-eldowy.com
http://marikatayama.com
BILD zu OTS – Mari Katayama: study for caryatid, #006, 2023 © Mari Katayama
BILD zu OTS – Gundula Schule Eldowy: Tamerlan, Berlin, 1987 © Gundula Schulze
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