Erste Preise 2024
Israel / Palästina: Die verschiedenen Gesichter des Schocks, des Schmerzes und einer tiefen Trauer
Sie haben die grauenvollen Szenen des Massakers der Hamas in ihren Kibbuzim am 7. Oktober 2023 überlebt. Sie sind vier Jahre, zehn Jahre, 13 Jahre alt. Oder 17 und waren für 51 Tage als Geisel verschleppt. In ihren Gesichtern, jenem etwa des achtjährigen Stav, offenbaren sich Fassungslosigkeit, Verlorensein, Pein. Die israelische Fotografin Avishag Shaar-Yashuv hat sie in einem Hotel porträtiert, das vielen der Opfer der Hamas-Attacke zeitweise eine Notunterkunft war. Wie im Porträt des Jungen Stav hat Avishag Shaar-Yashuv mit großer Eindringlichkeit gezeigt, was es für Kinder bedeutet, einen fundamentalen Einsturz ihres bisherigen Lebens ertragen zu müssen.
Die Jury des UNICEF Foto des Jahres, wissend um sehr unterschiedliche Opferzahlen in Israel einerseits, Gaza anderseits, mochte sich nicht anmaßen, eine Rangfolge des Leidens aufzustellen. Denn jenseits aller Schuldfragen haben hier zwei Fotografinnen auf beiden Seiten der Front gleichermaßen dazu beigetragen, ein universelles Bild vom Schicksal der Kinder im Krieg zu zeichnen. Ganz ohne Blut, zurückhaltend beide, sind ihnen zarte Hinweise auf eine schwer erschütterte Psyche gelungen. Zugleich Bilder, die aufschlussreich und mahnend auch dann noch sein werden, wenn die Waffen eines Tages schweigen. Erstmals in der nun 25-jährigen Geschichte des UNICEF Fotos des Jahres hat die Jury zwei erste Preise verliehen.
Palästina: Das Drama von Dareen und Kinan
Sie haben die Bombardements der israelischen Luftwaffe auf Wohnviertel in Gaza überlebt. Sie sind zwei Jahre, vier Jahre, fünf Jahre, neun, 13 oder 15 Jahre alt, sie sind unter Trümmern hervorgegraben worden, sind gelähmt, haben ihr Augenlicht, haben Arme, Beine, Hände verloren, oft ihre Eltern, nicht selten ihre gesamte Verwandtschaft. In ihren Gesichtern Fassungslosigkeit, Verlorensein, Leid. Die palästinensische Fotografin Samar Abu Elouf hat die Kinder in einem Hospital in Katar porträtiert, wo sie gerettet wurden. Darunter das Geschwisterpaar Dareen, elf, und Kinan, fünf Jahre alt, die einzigen Überlebenden einer durch einen Bombenangriff ausgelöschten Familie. In diesem an altmeisterliche Gemälde erinnernden stillen Bild offenbart sich in großer Eindringlichkeit die ganze Würde von Kindern selbst noch in existentieller Seelennot.
Demokratische Republik Kongo: Ein Virus auf dem Vormarsch
Früher „Affenpocken“ genannt, macht eine seltene Viruserkrankung unter der Bezeichnung Mpox in Teilen Afrikas seit einiger Zeit ungute Karriere. Vor allem in der Demokratischen Republik Kongo mit etwa 40.000 vermuteten und mehr als 8.000 bestätigten Fällen sowie bereits über 1.000 Todesopfern. Zum zweiten Mal nach 2022 hat die Weltgesundheitsorganisation die höchste Alarmstufe dazu aufgerufen; Mpox-Fälle sind unter anderem auch aus den USA und Deutschland bekannt. Es gibt eine Impfung gegen Mpox, doch vor allem in ärmeren Ländern ist die Versorgung damit lückenhaft.
Besonders gefährdet: Kinder. Mpox führt nicht nur zu Hautinfektionen mit Geschwürbildung, sondern kann auch Lungenentzündungen, Entzündungen des Gehirns und Augeninfektionen bis hin zum Sehverlust bewirken. Der französische Fotograf Pascal Maitre ist ins Zentrum der Infektionen gegangen und hat die Behandlung betroffener Kinder im Kavumu-Hospital in der Region Kivu, im Osten des Kongo, dokumentiert. Darunter ist der sieben Monate alte Junge Japhet, dessen Pusteln im Gesicht mit dem antiseptischen Medikament „Gentian Violet“ behandelt werden. Gepflegt und behütet wird der Kleine von seiner 19-jährigen Mutter Christevi. Auch Erwachsene werden in der spärlich ausgestatteten Gesundheitsstation behandelt, dort immer noch besser aufgehoben als auf dem Lehmboden ihrer Hütten – oder in Lagern wie dem von Busharaga, wo Mpox unter den 16.000 dort untergekommenen vor interner Gewalt Geflüchteten gefährliche Ausbreitungsmöglichkeiten hat.
Frankreich: Der schwere Weg ins Leben
Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation werden weltweit etwa zehn Prozent aller Kinder vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche geboren, also drei Wochen zu früh. Mit jeder Woche weniger wird der Eintritt ins Leben dramatischer, vor allem für extrem Frühgeborene, die schon nach weniger als 32, gar bereits nach 26 Schwangerschaftswochen die ersten Atemzüge machen müssen. Die größten Gefahren: mangelnde Lungenreife, Nierenunterfunktion. So ist der Tod nach Frühgeburt global der zweithäufigste Grund, das fünfte Lebensjahr nicht mehr zu erreichen. Auch in Industrienationen wächst der Anteil der Frühgeburten, was vor allem auf das steigende Alter der Mütter bei der Geburt zurückgeführt wird, doch hat mindestens in den reichen Ländern die medizinische Fürsorge für Frühchen große Fortschritte gemacht. Schon Kinder, die nach nur knapp 22 Wochen zur Welt kamen, mit nur 26 Zentimeter Größe, mit lediglich 245 Gramm Gewicht, konnten gerettet werden. Die französische Fotografin Maylis Rolland hat am Universitäts-Krankenhaus der Stadt Rennes einige Zeit lang die wunderbaren Momente eingefangen, in denen das zerbrechliche Leben winzigster Babys mit großem Aufwand an Geräten und zugleich intensiver menschlicher Zuwendung stabilisiert wird. Etwa jenen Moment, in dem der kleine Junge Gabin, nach 25 Schwangerschaftswochen geboren und noch unter einer Atemmaske, das Gesicht seiner Mutter Doriane berührt.
Ehrenvolle Erwähnung 2024
Äthiopien/Malaysia: Wenn ein Junge nicht mehr spricht
Mit seinen Eltern, mit seinem Bruder hat Milo geredet, seit er sprechen kann. Außerhalb der Familie aber verstummte er komplett. Er war sechs Jahre alt, als die Diagnose kam: selektiver Mutismus, ein vermutlich genetisch bedingter, angstbesetzter Sprechabbruch in sämtlichen Situationen außerhalb der familiären Geborgenheit. Munter und redselig zuhause, brachte der Junge kein Wort mehr heraus, sobald er auf andere Menschen traf. Eine Notlage, in die nach Schätzungen etwa eines von hundert Kindern geraten kann. Milos Mutter, die kanadisch-mexikanische Fotografin Patricia Krivanek, für die der Befund so schockierend wie aufrüttelnd war, überlegte sich, wie sie ihrem Sohn Brücken bauen und ihn aufschließen konnte. Sie schenkte ihm eine einfache Kamera, die ihm helfen sollte, seine Emotionen zu zeigen. Sich mit visueller Sprache auszudrücken. Zugleich fotografierte sie auch ihn und bat ihn aufzuschreiben, was er dachte. „Between the silence“, zwischen dem Schweigen, oder: zwischen „Licht und Düsternis, Spaß und Verzweiflung, Klang und Stille“ nennt sie das gemeinsame Projekt, das ihrem Sohn tatsächlich geholfen hat, eine Furcht loszuwerden, die betroffene Kinder oft bis ins fortgeschrittene Schuljahr begleitet. Krivanek beschreibt dies als „Therapie für beide“, gegen die Scheu und für die Verständigung habe sie Milo mit der Kamera „bewaffnet“ und stärker gemacht.
Frankreich, Nepal: Kinder, die in Handys kriechen
Das omnipräsente Smartphone, begehrt schon von Kleinkindern, beschäftigt mittlerweile auch Wissenschaft und Medizin. Und dies zu Recht. Denn negative Auswirkungen auf Psyche, soziale und kommunikative Kompetenzen sowie auf die Lernfähigkeit sind kaum noch umstritten. Einzelne Hirnforscher sprechen bereits von „digitaler Demenz“, andere plädieren deshalb dafür, Handys wenigstens im Grundschulalter noch zu verbieten, um erst einmal analoge, also direkte menschliche Begegnung in den Mittelpunkt zu stellen. Der französische Fotograf Jérôme Gence hat Zahlen dazu gelesen: etwa, dass Kinder und Jugendliche in Frankreich täglich drei Stunden auf ihr Handy starren, auf dem sie über 230 Nachrichten pro Tag erhalten. Dass 50 Prozent der französischen Familien das Handy auch während des gemeinsamen Essens benutzen. Dass die Weltgesundheitsorganisation davor warnt, Kindern unter drei Jahren ein Smartphone in die Hand zu drücken, weil dies zu Schlafstörungen führen könne. Und nur 13 Prozent der Eltern die Empfehlung beherzigen. Und dass die Handy-Manie selbst ein Land wie Nepal ergriffen hat. Momente dieser Sucht hat er in „The screen generation“ eingefangen.
Palästina: Es ist nicht ihr Krieg
Erwachsene haben den Krieg begonnen, nur Erwachsene könnten ihn beenden. Bis sie es eines Tages tun werden, leiden auch die Unschuldigsten: die Kinder. Und in Gaza leiden sie besonders brutal. Nach Angaben des UN-Menschenrechtsbüros, das für den Zeitraum November 2023 bis Ende August 2024 mehr als 8100 Todesfälle verifiziert hat, sind 70 Prozent davon Frauen und Minderjährige gewesen, die meisten von ihnen zwischen fünf und neun Jahre alt, danach die Altersgruppe der Zehn- bis 14- Jährigen. Tausende von ihnen vermutlich unter den Trümmern bombardierter Wohnhäuser begraben oder in Massengräbern verscharrt. Unzählige Kinder sind kriegsverletzt und verstümmelt. Der palästinensische Fotograf Saher Alghorra hat die Erbarmungslosigkeit des Krieges in herzerschütternden Bildern eingefangen: Kinder auf der Flucht auf staubigen Straßen. Zu Skeletten abgemagert. Blutend auf den Kacheln eines Krankenhauses. In Warteschlangen für Lebensmittel oder Trinkwasser. Beim Abschied von getöteten Eltern. Oder selber auf dem Totenbett. In einigen Bildern will Alghorra aber auch zeigen, wie selbst inmitten von Chaos und Horror Kinder die Kraft haben, uns Hoffnung zu lehren.
Israel: Yael war stärker als der Terror
Als am 7. Oktober 2023 Hamas-Kämpfer nach Israel eindringen und dort mehr als 1.200 Menschen ermorden, attackieren sie auch das Haus der Familie Golan im Kibbuz Kfar Aza. Elai Hogeg und ihr Mann Ariel versuchen dort, sich mit ihrer anderthalbjährigen Tochter Yael zu verstecken. Vergeblich, sie werden nicht verschont. Das Überfallkommando steckt ein Zimmer in Brand und wirft einen geöffneten Butangas-Zylinder in das Feuer. Der Brand greift auf das gesamte Haus über. Mit schwersten Hautverletzungen rettet sich das Ehepaar mit seinem Kleinkind aus einem Fenster, flieht zu Fuß bis zu einer Station, wo ein Auto die Familie zu einem Hubschrauber-Landeplatz fährt. In einer Klinik in Tel Aviv werden die drei Patienten in getrennten Räumen in ein künstliches Koma versetzt: das Mädchen, dessen Haut zu 30 Prozent von Brandwunden übersät ist, für acht Tage. Der Vater, noch schwerer verletzt, für zehn Tage. Die Mutter, die es am furchtbarsten getroffen hat, für 53 Tage. Der israelische Fotograf Ziv Koren hat den Überlebenskampf der Familie Golan ausführlich begleitet: die Zeit im Krankenhaus, in der sich Großeltern um die kleine Yael kümmern mussten, weil es die Eltern nicht konnten. Und dann jene Zeit, in der die Familie ihr körperliches Trauma allmählich überwand. Bis zu jenem Moment, als die Golans erstmals in ihr völlig zerstörtes Haus zurückkehrten – und darin nicht viel mehr als ein Bild aus glücklicheren Tagen fanden. Es ist die Geschichte einer Heilung, die fern von einem Happy End ist. Die Rettung des nackten Lebens; mehr noch nicht.
Nigeria: Ein Tanz in das Selbstbewusstsein
Auch fern der Ballettschulen in den Metropolen, auch abseits des polierten Parketts, auch dort, wo das durchschnittliche Monatseinkommen der Menschen bei etwa 200 Euro liegt – gibt es Mädchen und Jungen, die sich in grazilen Pirouetten üben und die Schwerkraft in grazilen Luftsprüngen überwinden. Zum Beispiel in Lagos, der Hauptstadt Nigerias. Dort hat der Ballettlehrer Daniel Ajala etwa 20 Mädchen und Jungen im Alter von zehn bis 22 Jahren in einem Ensemble für klassischen Tanz versammelt. Sie üben im Freien, auf einem von Stacheldraht geschützten Hof, auf unebenem Grund, vor Hitze und Regenschauern gleichermaßen ungeschützt und von Hühnern begleitet. Die „Dance Academy“ von Lagos! Gründer Ajala, Absolvent der Lagos State University, startete seine eigene Akademie mit fünf Kindern aus dem Viertel. Einem Viertel, das nur einige Stunden am Tag eine Stromversorgung hat, bewohnt von armen Familien, in denen das Tanzen in einem Ballett ein fremder Luxus war. Trotzdem verfing die Idee, Kinder in eine andere Perspektive hineintanzen zu lassen. Es helfe ihnen, das ist die Überzeugung inzwischen nicht nur von Ajala, „sie aufstehen zu lassen, ihre Stimme zu erheben und sich zu verteidigen“.
Sambia, Argentinien: Eine Kindheit ohne Eltern
Sind es etwa 140 Millionen weltweit, wie die Vereinten Nationen schätzen? Sind es mehr? Zur Zahl der Waisenkinder gibt es keine verlässlichen Informationen, denn in vielen Ländern fehlen statistische Erhebungen zu jenen Jungen und Mädchen, die das Stigma des Verlassenseins tragen. Es ist nicht immer der Verlust von Vater oder Mutter oder beiden, der Kinder zu Halb- oder Vollwaisen macht. Das war in afrikanischen Ländern südlich der Sahara eine Zeit lang vor allem durch die HIV-Epidemie der Fall. Aber auch zerrüttete Familien mit mangelnder Hinwendung, Verwahrlosung, Gewalt, Missbrauch und Armut machen Kinder zu Verstoßenen, zu Verlorenen. Der italienische Fotograf Valerio Bispuri hat bei seinen Reportagen in Afrika und Lateinamerika auch immer wieder Waisenhäuser besucht, zunächst in Kenia, dann ausführlicher in Sambia und in Argentinien, das seine zweite Heimat geworden ist. In Sambias Hauptstadt Lusaka war er als erster Fotoreporter im „Home of Happiness“, vor einigen Jahren für Waisenkinder mit heftigen physischen und mentalen Beeinträchtigungen gegründet. In Buenos Aires fotografierte er in zwei Waisenhäusern. Dazu in beiden Ländern auch Straßenkinder, die gänzlich ohne Heim sind. Bispuri arbeitet ganz bewusst jenseits der Nachrichtenströme. Ihm geht es, wie er sagt, um die „Unsichtbaren“. Um jene, die so unbeachtet und vergessen leben, als seien sie „never born“. Nie geboren.
Sudan: Die unbeachtete Tragödie
Fern der Schlagzeilen spielt sich eine der größten humanitären Katastrophen der Gegenwart im Sudan ab. Acht Millionen Menschen, vermutlich noch mehr, sind dort auf der Flucht vor den Fronten eines seit 2023 tobenden Kriegs in dem ostafrikanischen Land. Rund 730.000 Kinder sind so schwer mangelernährt, dass ihr Leben in unmittelbarer Gefahr ist. Die Kriegsparteien setzen den Hunger gezielt als Waffe ein, indem sie Bauern plündern, Tiere stehlen, Wasserquellen kontrollieren. Schulen und Gesundheitsposten werden zerstört, Kinder für den Kampf zwangsrekrutiert, sexuelle Gewalt gegenüber Mädchen ist verbreitet. Die internationale Aufmerksamkeit auf dieses Drama zu lenken, ist Ziel des irischen Fotografen Ivor Prickett, der Elend, Unterernährung, Flucht und Verzweiflung im Sudan dokumentiert. Einem verheerten Land, in dem sich UNICEF trotz aller Hindernisse bemüht, Medikamente, medizinisches Equipment, sauberes Wasser und andere Hilfsgüter, dazu therapeutische Spezialnahrung für entkräftete Kinder zu liefern. Die UNICEF-Teams halten unter allen Gefahren vor Ort aus.
Alle Texte © Peter-Matthias Gaede für UNICEF 2024