Auch wenn man inzwischen den Rahmen geweitet hat und von einem Festival der visuellen Künste spricht: PHotoESPAÑA bleibt ein Ort der Fotografie, bei dem Interessierte historischen Bildleistungen ebenso begegnen wie zeitgenössischen Positionen, spanischer ebenso wie internationaler Fotografie, konventioneller ebenso wie konzeptioneller Kamerakunst. Jährlich ab Anfang Juni eigentlich ein Muss.
Er dachte immer groß. Das tun andere auch Aber er dachte seine Ideen zu Ende und machte Nägel mit Köpfen. Schon sein erster Wurf war nicht weniger als ein gedruckter Superlativ. 1995 erschien die erste Nummer der Zeitschrift Matador, übergroß im Format, superb gedruckt und von Fernando Gutiérrez, einem der führenden spanischen Grafikdesigner, kongenial gestaltet: ein überwältigendes Schaufenster internationaler Fotografie, wie es kein zweites gab – seit Verve oder Minotaure in den 1920er Jahren. Jährlich sollte eine Nummer erscheinen, beginnend mit dem Buchstaben „A“. Das letzte Heft mit der Kennung „Z“ kam im vergangenen Jahr heraus. Wenig später starb für alle überraschend Alberto Anaut, eigentlich Politologe, mehrere Jahre leitender Redakteur bei der Tageszeitung El País, vor allem Initiator und treibende Kraft des 1998 gestarteten Festivals PHotoESPAÑA, einem jährlichen Fototreffen ab Juni, das längst seinen Platz im internationalen Festivalkalender hat. Wie es nun wohl weitergehen werde, dürften sich viele gefragt haben. Aber natürlich hatte Anaut längst Strukturen geschaffen und ein Team geformt, das ein Fortbestehen seiner Idee garantieren würde. Entsprechend präsentierte die nunmehr 27. Edition dieses „internationalen Festivals für Fotografie und visuelle Künste“ in gewohnter Weise ein breit gefächertes Programm auf hohem musealem Niveau, für das als neue künstlerische Leiterin die Kulturmanagerin Maria Santoyo gewonnen werden konnte.
Eine Künstlerin im Schatten
Nicht weniger als 42 Ausstellungen versprach das diesjährige offizielle Programm, flankiert von einem Festival off mit nochmals 32 Veranstaltungen in Galerien, Art Spaces oder an eher versteckten Orten, deren Besuch – schöner Nebeneffekt – auch weniger bekannte Seiten der Hauptstadt offenbarte. Prominent am Paseo de Recoletos, also wenige Schritte vom Prado entfernt, residiert mit der Fundación MAPFRE eine Institution, deren in der Regel monografische Ausstellungen stets zu den Highights des Festivals gehören. Diesmal sorgte eine Schau der amerikanischen Fotografin Consuelo Kanaga (1894–1978) für Staunen. Eigentlich müsste man ihren Namen kennen. Schließlich war sie 1955 in der legendären Family of Man-Ausstellung vertreten, war Teil der f.64-Gruppe um Ansel Adams und Edward Weston und engagierte sich mit Lewis Hine für die New Yorker Photo League. Aber sie war eben eine Frau, stand links und war mit Afro-Amerikanern befreundet: Im Amerika McCarthys nicht gerade eine Eintrittskarte in die fotografische Hall of Fame.
Die materialreiche, überlegt kuratierte Werkschau zu Consuelo Kanaga präsentierte in Gestalt kleinformatiger Vintage Prints alle Aspekte im Werk der – ein bisschen wie Vivian Maier vereinsamt und mittellos verstorbenen – Fotografin, also Stadtlandschaften in ästhetischer Nähe zu Berenice Abbott, Straßenszenen, die an Walker Evans denken lassen, Porträts von Künstlern wie Alfred Stieglitz oder W. Eugene Smith oder immer wieder einfühlsame Bildnisse anonymer schwarzer Menschen – doch etwas Besonderes innerhalb einer nach wie vor rassistisch geprägten amerikanischen Kultur. Letztlich hat sich wenig erhalten – man spricht von etwa 400 Original-Abzügen. Und so hatte fast die Hälfte der überlieferten (und heute im Brooklyn Museum New York aufbewahrten) Vintage Prints den Weg über den Atlantik gefunden. Dass Kanaga in vielen Fällen ihren männlichen wie weiblichen Kollegen vorausgeeilt war – auch dies wurde in der materialreichen Schau eindrucksvoll belegt. So ähnelt Langes Migrant Mother von 1936 in seiner Ikonografie verblüffend einem bereits 1922 aufgenommenen Gruppenporträt von Kanaga. Das eine Bild wurde zur Ikone. Das andere ist unbekannt geblieben.
Ebenfalls in der Fundación MAPFRE eine in Zusammenarbeit mit dem Art Institute of Chicago erarbeitete Schau zu David Goldblatt, nebenbei die erste große Ausstellung seit dessen Tod 2017. Sein Ziel sei es gewesen, „die grausame Geografie der Apartheit möglichst ehrlich und direkt zu dokumentieren“, so der 1930 in Randfontein geborene Spross jüdischer Einwanderer, wobei sich Goldblatt hütet, in Propaganda abzugleiten, stattdessen seine Kritik am System in auf den ersten Blick unspektakuläre Reportagen, einfühlsame Porträts oder überwältigende Landschaften in Farbe mit allerdings subkutaner Botschaft kleidet. Nicht weit ist es von der Fundación zum Circulo de Bellas Artes, wo man auf Masahisa Fukase (1934–2012) gespannt sein durfte. Dessen zwischen 1975 und 1986 erarbeiteter Zyklus Ravens (Raben) gehört ja längst zu den bedeutendsten Hervorbringungen japanischer Fotografie im 20. Jahrhundert. Seelisch getroffen durch die Trennung von seiner Frau hatte Fukase über Jahre das Treiben der schwarzen Vögel mit der Kamera verfolgt, um am Ende zu einer großen, stimmigen Metapher für eine tiefe Lebenskrise zu gelangen. In der Sala Minerva zu sehen waren allerdings nur Neuabzüge sowie Ausgaben der Zeitschrift Camera Mainichi, die Fukases Zyklus seinerzeit erstmals publiziert hatte.
Deutliche Nähe zur Skulptur
Wo steht die spanische Fotografie heute? fragte Kurator Alejandro Castellote eine Etage höher in der Sala Goya und gab insofern eine pointierte Antwort, als er durch die Bank konzeptionelle, medienübergreifende Positionen zu einem dicht gehängten Parcours verschmolz – durchweg Arbeiten in deutlicher Nähe zu Skulptur, Installation oder Performance. Das konventionelle, das dokumentarische Bild, so scheint die Botschaft, hat ausgedient, das Finden wird durch das Erfinden abgelöst. Dazu passte denn auch der vom Energieversorger Enaire an die spanische Künstlerin Paloma Navares vergebene Preis für deren Lebenswerk, das tatsächlich die Fotografie nur zum Vorwand nimmt, um raumgreifende Installationen von allerdings enormer Sogwirkung zu generieren (Real Jardín Botánico). Wer Reste des Dokumentarischen (im weitesten Sinne) suchte, wurde immerhin in der Galerie Ponce+Robles fündig. Drei Fotografinnen, nämlich Cristina de Middel, Lúa Ribeira und Cristina García Rodero, allesamt Magnum-Mitglieder, zeigten hier die farbstarken Ergebnisse einer gemeinsamen Exkursion nach Valencia, wo man sich aus unterschiedlicher Perspektive der Frühlings-Festivitäten annahm. Vor allem die ironisch unterfütterten Bildfindungen von García Rodero, bekannt durch ihren Zyklus España oculta, vermochten hier zu überzeugen.
Mit Elliott Erwitt starb Ende November 2023 der bis dato dienstälteste Magnum-Fotograf, weniger Bildjournalist, wie die Frankfurter Allgemeine in ihrem Nachruf unterstrich, vielmehr „Erzähler, vielleicht sogar ein Dichter“. Man kennt seine Hundefotos, komisch, tragisch, augenzwinkernd. Dass Erwitt vor allem ein gewitzter Beobachter war, der sich Cartier-Bressons Suche nach dem „Entscheidenden Augenblick“ auf ganz eigene Weise zu eigen machte, zeigte auf überzeugende Weise die umfangreiche, in drei Kapitel (Menschen, Tiere, Formenspiele) gegliederte Schau, bei der man erfreulicherweise einmal nicht auf blasse Neuabzüge setzte, vielmehr auf den Charme der kleinformatigen Arbeitsprints aus Erwitts New Yorker Studio vertraute (Fundación Canal).
PHotoESPAÑA war von Anfang an international ausgerichtet, zugleich der spanischen, auch lateinamerikanischen Fotografie in besonderer Weise verpflichtet. Wer kannte bis dato schon Namen wie Ramón Masats, Ricard Terré oder Xavier Miserachs, sämtlich Mitglieder der Fotografengruppe Afal, deren lebendige, innovative Fotografie in Zeiten der Franco-Diktatur allerdings keine Chance hatte, über die Grenzen Spaniens hinaus wahrgenommen zu werden. Zu Afal gehörte auch Gonzalo Juanes (1923–2014), dem man im beispielhaft zu einem Art Space umgebauten historischen Wasserturm Canal de Isabel II auf sage und schreibe vier Etagen eine beeindruckende Werkschau eingerichtet hatte. Standen zunächst und unter dem Einfluss von Robert Frank und William Klein (Freunde hatten die einschlägigen Bücher nach Spanien geschmuggelt) schwarz-weiße Straßenszenen im Zentrum seiner Arbeit, so wandte er sich schon bald der Farbe zu mit wiederum Straßenszenen, Landschaften, Stadtlandschaften. Was mit ein Grund dafür sein dürfte, dass sein Beitrag weitgehend vergessen ist: Kodachrome ließ sich ja bestenfalls projizieren, sieht man vom für spanische Kamerakünstler unerreichbaren Dye Transfer-Verfahren ab.
Billard als Geschlechterkampf
Der Farbe verpflichtet sieht sich bis heute der 1947 in der Ukraine geborene, heute in Spanien lebende Boris Savelev. Frühe Arbeiten in Schwarz-Weiß lassen an Antanas Sutkus denken, die Farbe ruft Saul Leiter in Erinnerung, jedenfalls geht es auch Savelev um Stimmungen, Farbakzente, Monochromien, Farbkontraste (Espacio Cultural Serrería Belga). Was macht man mit einem heimatlosen Koffer aus den 1930er Jahren, der über Umwege im Museo Nacional de Artes Decorativas landet? Man öffnet ihn und findet: Den bildhaften Nachlass eines gut gestellten anonymen bürgerlichen Paares, wobei sich zu den üblichen Hochzeits- und Familienfotos, zunächst versteckt, im damaligen Sinne Pornografisches gesellt. Madrid um 1930, so Kurator David Trullo, war eine ausgesprochen westlich orientierte Stadt, vergleichbar mit Paris oder Berlin. Sexuelle Orientierung in allen möglichen Spielarten war geduldet, dies denn auch der Hintergrund für die erotischen Selbstinszenierungen aus dem besagten Koffer. Dass das Ehepaar Spanien mit dem Bürgerkrieg womöglich fluchtartig verlassen hat, wäre eine Erklärung für diesen seltsamen Kofferfund.
Ein klassisches Billardzimmer im Museo Nacional del Romanticismo bildete gedanklich den Ausgangspunkt für eine Arbeit, die das Künstlerpaar Laure San Segundo und Alejandría Cinque in einem Raum für Sonderausstellungen raumgreifend installierte. Billardzimmer waren traditionell für Frauen tabu. Also wagten sich Segundo und Cinque an eine Art Geschlechterkampf rund um Queue und Kugel als Zeichen für eine sich verändernde Rolle der Frau in der Gesellschaft. Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen ist in Spanien ein brennendes Problem, was man angesichts einer Jeunesse dorée in abendlichen Bars und Restaurants leicht übersieht. Lúa Ribeira, seit 2018 als Nominee bei Magnum, hat sich des Themas angenommen, allerdings nicht im Sinne einer klassischen Reportage, vielmehr als interaktive Performance, die den Jugendlichen Gelegenheit gibt, sich zu den Klängen von „Trap“ und „Drill“ zu inszenieren und so ihre Gefühle vor der Kamera auszuleben (Museo Lázaro Galdiano). Die wohl umfangreichste Schau hatte man dem erst im September vergangenen Jahres verstorbenen Erwin Olaf eingerichtet. Seit den 1980er Jahren bringt sich der Niederländer mit detailverliebten Inszenierungen ins Gespräch, erotisch aufgeladenen Bildfindungen, deren gelegentliches Chiaroscuro unübersehbar an das Goldene Zeitalter der flämischen Malerei erinnert. Grundsätzlich dachte der fotografierende Provokateur Olaf in größeren Zyklen. Die wichtigsten hatte Kurator Paco Barragán vor tüchtig rosa, rot und grau gestrichenen Wänden ausgebreitet (Fernán Gómez).
Man muss das weitgehend glatte, ungeachtet seiner emanzipatorischen Botschaft kalte, dem Fotodesign nahestehende Werk von Erwin Olaf nicht unbedingt mögen, um dennoch die inszenatorische Wucht der Ausstellung anzuerkennen. Auch insgesamt und einmal mehr überzeugte PHotoESPAÑA durch ein hohes museales Niveau, ideenreiche Inszenierungen, immer wieder Überraschendes – was angesichts schrumpfender Budgets nicht genügend unterstrichen werden kann. Aber in Madrid weiß man: Längst folgt man einem Anspruch, ist nicht weniger als eine „Marke“, zu der nicht zuletzt das Signalgelb der Flyer, der Werbemittel und Leitsysteme gehört. Das Gelb übrigens hatte man sich seinerzeit in der Hoffnung auf finanzielle Unterstützung von Kodak geborgt. Geld gab es keines. Und Kodak ist Geschichte. Bei PHotoESPAÑA denkt man bereits an 2026.
Hans-Michael Koetzle
Noch bis 29. September ist das Gros der Ausstellungen zu sehen. Neben dem traditionellen Guide für die Jackentasche sind etwa zu Consuelo Kanaga, David Goldblatt und Gonzalo Juanes Kataloge auch in englischer Sprache erschienen.