Nein die Weltgeschichte der Fotografie muss nicht neu geschrieben werden. Wohl aber die der deutschen. Denn über die, so erläutert Cornelia Kemp, ehemalige Kuratorin des Fotobereichs des Deutschen Museums in München, in ihrem jüngsten Buch „Licht – Bild – Experiment. Franz von Kobell, Carl August Steinheil und die Erfindung der Fotografie in München“, kursieren geradezu abenteuerliche Geschichten zu ihrer Geschichte. Vier Jahre lang hat die Wissenschaftlerin nach ihrer Mitarbeit im deutschen Museum in dessen Archiven recherchiert und dabei ein auf der Rückseite handdatiertes Papiernegativ von Franz von Kobell entdeckt, das im März 1837 entstanden ist und die Münchner Frauenkirche zeigt.

Cornelia Kemp mit der ältesten Fotografie Deutschlands, angefertigt im März 1837 von Franz von Kobell.
Bislang gilt das Jahr 1839, als Louis Jacques Mandé Daguerre seine Erfindung in Paris öffentlich machte als das Geburtsdatum der Fotografie. Das ist allerdings eine Vereinbarung und Vereinfachung, denn die Fotografie hat viele Väter! Sie hat auch nicht ein Geburtsjahr, sondern ihre Entwicklung zog sich über viele Jahre hin. Die ältesten Aufnahmen aus Deutschland stammen von Franz von Kobell und werden in den Sammlungen des Deutschen Museums aufbewahrt.
Bisher galten die Bilder von Carl August Steinheil und Franz von Kobell aus dem Jahr 1839 als die ersten Fotos in Deutschland. Die beiden hatten in diesem Jahr in München verschiedene Motive aufgenommen. Jetzt hat Cornelia Kemp, Wissenschaftlerin am Deutschen Museum, bei den Recherchen für ihr Buch „Licht – Bild – Experiment“ herausgefunden: Franz von Kobell hat schon zwei Jahre zuvor Salzpapier-Negative angefertigt. Die nur vier mal vier Zentimeter große Aufnahme befindet sich – zusammen mit 13 weiteren Fotografien aus dieser Zeit – in den Sammlungen des Deutschen Museums in München und lagert dort lichtgeschützt in einem speziellen Kühl-Archiv.

Eine der weiteren Fotografien von 1837, die sich in der Sammlung des Deutschen Museums befinden: Diese Aufnahme zeigt das sogenannte Bazargebäude am Odeonsplatz (Tambosi). Repro: Deutsches Museum
Von diesen Fotos gibt es keine Positive: Das Salzpapier, auf dem Kobell seine Bilder aufnahm, ist zu dick, um Abzüge davon herzustellen. Inzwischen kann man aber auf digitalem Wege Positive von den Bildern erzeugen, die erstaunlich detailreich sind und sogar das Ziffernblatt der Uhren an den Türmen der Frauenkirche erkennen lassen. Neben den Türmen der Frauenkirche aus verschiedenen Perspektiven hat Kobell im Jahr 1837 auch noch das sogenannte Bazargebäude am Odeonsplatz (Tambosi) und die Mariahilf-Kirche abgelichtet; 1839 folgten Aufnahmen von der Glyptothek und von Schloss Nymphenburg.
„Kobell hat kein Wort über diese Aufnahmen verloren“, erzählt Cornelia Kemp. Erst 1839, im „Geburtsjahr“ der Fotografie, haben Steinheil und Kobell in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von ihren Versuchen berichtet. In diesem Jahr gab François Arago, der Sekretär der französischen Akademie der Wissenschaften, in Paris am 19. August die Erfindung der Daguerreotypie, der Fotografie auf Metall, bekannt. Der Engländer Henry Fox Talbot berichtete im selben Jahr von seiner Erfindung der Fotografie auf Papier, der Kalotypie.
Unbestritten ist aber, dass es Lichtbilder gibt, die schon früher entstanden sind. „Eine Aufnahme von einem Fenster in seinem Wohnsitz in Lacock Abbey hat Talbot bereits 1835 datiert und im gleichen Jahr erschien auch ein erster Pressebericht über Aufnahmen von Daguerre“, sagt Kemp. Und die älteste erhaltene Kamerafotografie von Nicéphore Niépce stammt sogar von 1826. Mit Niépce wiederum hat Daguerre zusammengearbeitet.

Cornelia Kemp mit dem Repro der ersten Fotografie Deutschlands und der handschriftlichen Datierung. Links ein Foto des Urhebers Franz von Kobell.
Aber warum gilt dann dennoch 1839 als Geburtsjahr der Fotografie? Cornelia Kemp erklärt: „Daguerre war ein sehr schlauer Geschäftsmann. Er hatte seinen Schwager Alphonse Giroux damit beauftragt, Kameras zu bauen und sorgte dafür, dass es auch eine Gebrauchsanweisung für seine Art der Fotografie gab. Ab dem Moment, in dem die Erfindung in der Akademie der Wissenschaften in Paris bekanntgegeben war, konnten die Leute daher in den Laden gehen und eine Kamera und alles übrige Equipment kaufen.“
Bei den Münchner Wissenschaftlern gibt es keinerlei vergleichbare Bestrebungen. Cornelia Kemp sagt: „Für Steinheil und Kobell war die Fotografie ein Experiment. Deshalb heißt mein Buch auch ,Licht – Bild – Experiment‘. Als sie das Prinzip verstanden hatten, haben Steinheil und Kobell sich wieder anderen Themen zugewendet.“ Und so ist Franz von Kobell heute bekannt als Vater des „Brandner Kaspars“ und nicht als Vater der deutschen Fotografie. Cornelia Kemp vermutet: „Für Franz von Kobell aus der berühmten Malerfamilie der Kobells besaß die Fotografie offensichtlich künstlerisch keine Bedeutung. Er hat genau in dem Jahr angefangen zu dichten, als er mit der Fotografie aufgehört hat.“ Zudem wurde Kobells Rolle bei der Entwicklung der deutschen Fotografie bisher völlig unterschätzt – man schrieb die Hauptrolle Steinheil zu, der sich jedoch hauptsächlich mit der Daguerreotypie beschäftigt hat. Die ersten Papieraufnahmen sind nachweislich von Kobell allein gemacht worden.
Cornelia Kemps Buch „Licht – Bild – Experiment“ erzählt die Frühgeschichte der Fotografie mit einer ungeheuren Detailtiefe, die für Fachleute eine große Bereicherung ist. Das Buch zeigt erneut, welche Bedeutung die Sammlung des Deutschen Museums und ihre Erforschung für die Technikgeschichte spielen. Wolfgang M. Heckl, Generaldirektor des Deutschen Museums: „Als Forschungsmuseum arbeiten wir natürlich mit unserer Sammlung – und dabei ergeben sich immer wieder spannende Erkenntnisse zu den Objekten, die neue Rückschlüsse auf die Geschichte der Technik in Deutschland zulassen. Die Geschichte dieses Bildes fasziniert ganz ungemein – die Objektforschung kann also immer wieder aufregende Neuigkeiten ans Licht bringen.“
Cornelia Kemp, langjährige Kuratorin für Foto und Film im Deutschen Museum, hat in akribischer Recherche die Fakten für ihr neues Buch „Licht – Bild – Experiment“ zusammengetragen, in dem sie die Frühgeschichte der Fotografie nachzeichnet. Eine ganz große Rolle in dem Buch spielen die ersten Fotografien aus Deutschland.
Die Frage, warum sich Franz von Kobell überhaupt mit der Fotografie beschäftigte beantwortet Cornelia Kemp folgendermaßen: „Es gibt eine bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Überlieferung, die sich mit der Lichtempfindlichkeit von Silbernitrat beschäftigt. 1802 gab es eine englische Publikation von Humphry Davy, in der es bereits um die fotografische Reproduktion von Graphik und Versuche mit der Camera obscura ging, doch war es eben nicht möglich, die Bilder zu fixieren. Das waren alles Chemiker und Kobell waren deren Publikationen zweifellos bekannt. Kobell war von Haus aus Mineraloge, er hat seine Gesteine immer auch chemisch untersucht – mit Lösemitteln. Da hatte er auch mit Hornsilber zu tun, was aus Silberchlorid besteht, und wusste genau, dass das durch Ammoniak zu lösen ist. Da hat er dann offensichtlich auch die Versuche von Davy wiederholt und eben mit Ammoniak das unbelichtete Silber aus dem Papier herausgewaschen.
Auch auf die Frage, warum hat Franz von Kobell nie etwas von seiner Erfindung erzählt hat, hält die Wissenschaftlerin eine Antwort parat: Nachdem Kobell diese Aufnahmen 1837 gemacht hat, hat er darüber kein Wort verloren. Er hat sich mit dem Verfahren auseinandergesetzt und herausgefunden, wie man die belichteten Bilder fixiert – indem man das unbelichtete Silber herauslöst. Als er wusste, wie man die Bilder fixiert, hat er sich nicht weiter damit beschäftigt. Kobell kommt aus einer bedeutenden Künstlerfamilie, sein Großonkel Franz Josef Innozenz Kobell hat wundervolle Aquatinta-Zeichnungen von München gemacht – da gibt es Grafiken mit einem ganz dramatischen Himmel. Auf den Fotografien aber ist der Himmel einfach nur eine braune Fläche. Im Vergleich mit diesen Arbeiten muss ihm die Fotografie künstlerisch wertlos erschienen sein – auch deshalb hat er sie nicht weiterverfolgt.“

Cornelia Kemp präsentiert frühe deutsche Salzpapier-Negative und Daguerreotypien aus der Sammlung des Deutschen Museums.
Auch die Rolle Steinheils in der deutschen Fotografiegeschichte hat Cornelia Kemp teilweise neu geschrieben und zurechtgerückt: „Steinheil hat Daguerreotypien gemacht. Das Verfahren ist sehr kompliziert, und deshalb konnte Steinheil das erst, nachdem Daguerre seine Erfindung bekanntgegeben hatte. Zwei Wochen nach der Bekanntgabe von Daguerre hat Steinheil auch Daguerreotypien angefertigt. Das sind die ersten Daguerreotypien in Deutschland, die auch gleich im Kunstverein ausgestellt wurden. Kobell und Steinheil werden in der Literatur immer zusammen genannt. Man hat nie unterschieden, wer was gemacht hat. Kobell hat aber tatsächlich die ersten Aufnahmen gemacht – Steinheil hat ihm dann lediglich empfohlen, eine Rohrkamera für seine Aufnahmen zu verwenden, die runde Bilder macht. Deshalb gibt es auch runde Aufnahmen von der Frauenkirche – vom gleichen Standort aus fotografiert. Dann sind Steinheil und Kobell am 13. April 1839 zusammen in der Akademie der Wissenschaften aufgetreten und haben das Verfahren bekanntgemacht. Kobell hat erklärt, wie das mit der Chemie funktioniert, und Steinheil hat gesagt: Dazu nimmt man eine Rohrkamera. Und seitdem hieß es immer: Die Aufnahmen sind von den beiden. Später hat man sich immer mehr auf Steinheil konzentriert – und Kobell ist völlig unter den Tisch gefallen, obwohl die ersten Aufnahmen von ihm waren.“
Bis heute gilt der 8. August, an dem Daguerre sein Verfahren in der französischen Akademie der Wissenschaften vorstellte als der Geburtstag der Fotografie, obwohl auch er bereits 1837 Daguerreotypien angefertigt hat. Warum er mit der Bekanntgabe seines Verfahrens solange zögerte, hat einen anderen Grund. Daguerre war, so erzählt Cornelia Kemp ein schlauer Geschäftsmann. „Er hatte seinen Schwager damit beauftragt, Kameras zu bauen und dafür gesorgt, dass es auch eine Gebrauchsanweisung für seine Art der Fotografie gibt. Ab dem Moment, an dem die Erfindung in der Akademie der Wissenschaften in Paris bekanntgegeben war, konnten die Leute in den Laden gehen und eine Kamera und alles nötige Equipment kaufen. Und auch Talbot hat Anfang 1839 vor der Royal Society beschrieben, wie seine Papierfotografie funktioniert.“
Weder Steinheil , noch von Kobel oder Talbot haben die Fotografie mit einer Kamera zur Serienreife gebracht. Für Kobell und Steinheil war das nur ein Experiment. Als sie das Prinzip verstanden hatten, haben sie sich wieder anderen Themen zugewendet. Deshalb betitelte Cornelia Kemp ihr Buch auch „Licht – Bild – Experiment“.
Cornelia Kemp: Licht – Bild – Experiment. Franz von Kobell, Carl August Steinheil und die Erfindung der Fotografie in München
Reihe: Deutsches Museum. Abhandlungen und Berichte – Neue Folge; Bd. 37
351 S., 217 z. T. farbige Abbildungen
ISBN 978-3-8353-5557-6
Preis: 36 Euro