Nach drei pandemiebedingt schwierigen Jahren meldet sich PHotoESPAÑA eindrucksvoll zurück. Mit rund hundert Ausstellungen an zum Teil prominenten Orten lockt Spaniens wichtigster Fotoevent, darunter ein Rückblick auf die „Movida“ der Nach-Franco-Zeit, ein Blick auf Picasso als Selbstdarsteller vor der Kamera sowie eine erste Retrospektive zu Louis Stettner. Offiziell endet das Festival am 3. September.
Blick zurück auf die bewegten 80er Jahre in Madrid: „La Movida“ in der Fundación Canal
Foto Hans-Michael Koetzle
Madrid ist nicht Arles. Was das seit 1998 jährlich veranstaltete Fotofestival in der spanischen Hauptstadt vom südfranzösischen Pendant im Wesentlichen unterscheidet: Nicht Treffen, Begegnungen, lauschige Momente unter Schatten spendenden Platanen machen den Charme des Treffens aus. Madrid lockt mit hochkarätigen Ausstellungen von musealer Qualität. Mehr als hundert Museen, Galerien, Kulturzentren, Art Spaces waren in diesem Jahr beteiligt. Einmal mehr und wohl aus Kostengründen hat man auf einen internationalen Gastkurator verzichtet. Nicht verzichten mochte man auf ein zentrales Thema, wobei man diesmal gleich drei, unübersehbar dem Zeitgeist verpflichtete Schwerpunkte setzte: „art, the environment and gender“, bringt Claude Bussac das Programm auf den Punkt, langjährige Leiterin des Festivals, die mit dieser Ausgabe allerdings ihren Abschied nimmt.
Hommage auf höchstem Niveau: die Retrospektive Louis Stettner in der Fundación MAPFRE
Foto Hans-Michael Koetzle
Höhepunkt der nunmehr 25. Ausgabe von PHotoESPAÑA war mit Sicherheit die große Louis Stettner-Ausstellung in der Fundación MAPFRE. Stettner, 1922 in New York geboren, 2016 in Paris verstorben, zählt fraglos zu den bedeutendsten Kamerakünstlern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Pariser und New Yorker Straßenszenen, Fotos aus der Subway, die an Walker Evans denken lassen, sowie suggestive Arbeiterporträts stehen im Zentrum eines Œuvres in Schwarz-Weiß und Farbe, dessen humanistischer Ansatz immer ein wenig quer stand zum von John Szarkowski, Leiter der Fotoabteilung im MoMA, diktierten formal-ästhetischen Aufbruch mit Namen wie William Eggleston, Diane Arbus oder Garry Winogrand. Was im Übrigen erklärt, dass Stettner noch nie eine umfassende Aussstellung von musealem Rang gewidmet war.
Aus der Ausstellung Martin Chambi in der Dasa de América
Mit Martin Chambi (Casa de América), Bernard Plossu (Communidad de Madrid) und Edward Burtynski (CentroCentro) wurden drei weitere „Klassiker“ der Fotografie mit Einzelausstellungen geehrt. Interessanter eine Reihe kulturgeschichtlich ausgerichteter Projekte, darunter ein Blick zurück auf die frühen 1980er Jahre in Madrid, als Bildende Künstler, Filmemacher, Fotografen unter dem Label „La Movida“ den kreativen Aufbruch wagten. Den demokratischen Wandel der Post-Franco-Ära flankierend erfanden sie – mit Namen wie Pedro Almodovar, Ouka Leele, Isabel Múñoz, Javier Vallhonrat oder Alberto García-Alix – ein neues Spanien, dessen künstlerischer Elan bis heute nachallt und sich nicht zuletzt an einem mustergültigen Erscheinungsbild des Festivals ablesen lässt (Fundación Canal). Als fotografierende Zeitzeugin hatte Marivi Ibarrola die „Movida“, konkret die Punk-, Funk- und Rockszene mit der Kamera begleitet. Ihr war in einer umgewidmeten frühreren Getreidemühle eine sympathische Hommage gewidmet. (Serrería Belga).
Aus der Ausstellung Movida von Marivi Ibarrola.
Als Entdeckung, wenn nicht kleine Sensation wird man das Werk von Bolette Berg und ihrer Geschäftspartnerin und Lebensgefährtin Marie Høeg bezeichnen dürfen. Gemeinsam unterhielten sie um 1900 ein gutgehendes Atelier in Horten, später Oslo, fertigten die üblichen Bildnisse eines gesetzten Bürgertums, schufen Landschaften und Stadtansichten, die vor allem in Gestalt von Postkarten das erwachende Nationalgefühl einer jungen Nation bedienten – bekanntlich wurde Norwegen erst 1905 selbstständig. Soweit die Fassade einer Ateliergemeinschaft, die nach Feierabend in eine gänzlich andere Richtung wies. Da nämlich schlüpften die beiden Frauen in alle möglichen Garderoben, probten vorzugsweise männlich konnotierte Rollen, erfreuten sich an einer facettenreichen Travestie, deren Bild gewordene Resultate erst unlängst im Nachlass entdeckt wurden und nun in Madrid erstmals ein internationales Publikum erreichten. Schon eine kleine Sensation, die nicht zuletzt an Cindy Sherman denken lässt – mit allerdings einem Vorsprung von nicht ganz hundert Jahren (Circulo de Bellas Artes).
Eine Ikone des Feminismus und der performativen Kunst:
Orlan während der Eröffnung im Circulo de Bellas Artes
Foto Hans-Michael Koetzle
Geschlechterfragen, Rollenbilder und -klischees, Fragen rund um Identität und weibliche Selbstfindung standen im Zentrum einer Gruppenschau im Circulo de Bellas Artes, dessen Art Déco-Architektur einmal mehr einen wunderbaren Rahmen bot. Neben Fina Miralles und Marina Abramovic war es vor allem die multimedial interessierte Künstlerin Orlan, die der Kunstgeschichte insofern eine neue Richtung gab, als sie Schlüsselwerke der Malerei neu interpretierte. Darunter Gustave Courbets skandalträchtiger „Ursprung der Welt“ von 1886 (heute im Musée d’Orsay) – hier nicht als kühn gesehener Frauenakt, sondern als Blick auf das männliche Geschlecht mit klar politischer Botschaft: Titel des auch in Rahmung und Format deutlich auf den Maler verweisenden Bildes mit trauriger Aktualität: „L’origine de la guerre“ („Der Ursprung des Krieges“).
Picasso und seine Galeristen Joan und Miquel Gaspar: die Ausstellung „Picasso en foto“
als eines der Highlights des diesjährigen Festivals
Foto Hans-Michael Koetzle
Problemlos und gewiss unter Beifall hätte man das Thema Picasso und die Frauen ins Programm nehmen können. 50 Jahre nach dem Tod des Künstlers entschied man sich freilich für einen politisch weniger aufgeladenen Aspekt, nämlich „Picasso und die Fotografie“, wobei – in Aufnahmen von Lucien Clergue und David Douglas Duncan – zum einen der lebenslange Selbstdarsteller Picasso Thema war, zum anderen über Dokumente und eher private Bilder die Rolle seiner Galeristen und Verleger und nicht zuletzt die seines langjährigen Sekretärs Jaime Sabartés deutlich wurde. Traditionell dem Thema Architektur widmet sich das Museo ICO, das diesmal Bleda y Rosa eine eindrucksvolle Installation gewidmet hatte. In Spanien bekannt ist das Künstlerpaar für seine seit den 1990er Jahren betriebene Erkundung historisch aufgeladener Orte. Großbild (Horseman) und analoges Mittelformat (Mamiya) waren und sind ihr Handwerkszeug. Man kennt ihre Landschaften und detailverliebten Stadtansichten aus früheren Ausgaben des Festivals. Diesmal hatten sich die beiden allerdings für eine raumgreifende Projektion entschieden, mehr Kino als Ausstellung, immerhin geeignet, die Zyklen im vollen Umfang zeigen zu können.
Bleda y Rosa: Fußballfeld in Paterna
Von überraschend angenehm milden Temperaturen begleitet war in diesem Jahr die offizielle Eröffnung des Festivals im Real Jardin Botánico, wo man in der einstigen Orangerie den Ergebnissen des 2022 erstmals ausgelobten Fotopreises der Fundación ENAIRE begegnete. Folgt man den von der Jury für die Shortlist ausgewählten Arbeiten, dann ist Fotografie heute eher Erfindung als Findung, mehr Konstrukt als Entdeckung, also Digital Imiging von bestechender Präzision bei allerdings weitgehend emotionaler Kälte. Groß im Format und edel gerahmt, scheinen die Bilder vor allem die Bedürfnisse des Kunstmarkts zu erfüllen, überwiegend Epigonales in gefährlicher Nähe zum Kitsch, immerhin technisch pefekt und gewiss nett über dem Sofa. Ein deutliches Statement immerhin wagte das Siegerbild von Mariana Vargas. Die unübersehbar 19. Jahrhundert atmende Bildfindung in Schwarz-Weiß richtet den Blick auf eine Malklasse, sämtlich Männer in betont bürgerlicher Kleidung. In der Mitte ein stehendes Model, nackt mit amputierter Brust, den Arm nebst geballter Faust in den Atelierhimmel gereckt. „Kunst“, „Fotokunst“ oder nur „politisch korrekt“ und dem Zeitgeist nah? Der Diskussion innerhalb der Jury hätte man gern gelauscht.
Foto Marina Vargas
Vielleicht sollte man noch Yasumasa Morimura erwähnen, 1951 geborener Kamerakünstler mit besonderer Affinität zu subtilen Täuschungsmanövern. Diesmal nimmt er Maß an weitgehend bekannten Selbstporträts etwa von Dürer, Leonardo, van Gogh oder Frida Kahlo, schlüpft, perfekt geschminkt und kostümiert, in deren Rolle, wobei einmal mehr digitale Technik das verblüffende Finishing besorgt haben dürfte. Die Ausstellung bei Juana de Aizpuru, übrigens Mitbegründerin der Madrider Kunstmesse Arco und bereits seit den 1970er Jahren auf dem Feld künstlerischer Fotografie aktiv, wird man als die fraglos interessanteste Galerieausstellung in diesem Jahr bezeichnen dürfen.
Hans-Michael Koetzle
Anlässlich des Festivals erschien eine Reihe empfehlenswerter Kataloge. Der jährliche Guide kostet 15 Euro.