Eine außergewöhnliche Ausstellung zeigt ZEPHYR – Raum für Fotografie der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim vom 24.9.2023 – 4.2.2024. Über zehn Jahre hat der Fotograf und Sozialarbeiter Jean-Michel Landon das Leben in den Arbeitervierteln südöstlich von Paris dokumentiert. Die Sonderausstellung „La vie des blocs“ vereint rund 130 Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Jean-Michel Landon. Den Bildern werden Zitate von Bewohnerinnen und Bewohnern aus den Vierteln zur Seite gestellt, die er während seiner Arbeit gesammelt hat.
Die Reportage „La vie des blocs“ ist sowohl eine Hommage an die Bewohnerinnen und Bewohner der Banlieues als auch fotografische Erinnerungsarbeit an eine Welt, deren wahres Wesen oft verkannt wird und deren Spuren im Zuge von Stadterneuerungsprojekten allmählich verschwinden.
Jean-Michel Landon wurde 1978 in Créteil geboren und bewegt sich zunächst als Jugendlicher, später als Sozialarbeiter und Fotograf im Slalom zwischen den verschiedenen Stadtvierteln. Seine Heimatstadt steht stellvertretend für viele Vororte rund um die Metropole Paris. Landons Reportage gibt einen intimen Einblick und erzählt vom Alltag der Menschen im Schatten der Wohntürme: ungeschönt und ungefiltert, aber immer erfüllt von dem Respekt und der Empathie des Eingeweihten. Er bricht mit den oft negativen Klischees über das Leben in den Banlieues, indem er dessen Pluralismus zeigt. In seinen Aufnahmen verschmelzen harte Alltagsrealitäten – geprägt von ethnischer und sozialer Ghettoisierung, Wohnungsnot, Drogenkonsum und Perspektivlosigkeit – mit Momenten voller Unbeschwertheit, Lebensfreude und Solidarität.
Seine Aufmerksamkeit richtet Landon besonders auf die Kinder und eine vergessene Generation an jungen Erwachsenen, die er mit sensiblem Blick porträtiert und für die er nicht selten zum „großen Bruder“ wird. Das gegenseitige Vertrauen, das aus diesen Begegnungen erwächst, spiegelt sich in zahlreichen aufrichtigen, unverstellten Momentaufnahmen, frei von Inszenierung und Voyeurismus. Es sind nicht die lauten Gesten und sensationellen Augenblicke, die Landon mit seiner Kamera festhält. Sein Interesse gilt vielmehr den leisen Randerscheinungen, dem unspektakulär Alltäglichen des Lebens. Damit stehen seine eindringlichen Aufnahmen in der Tradition bedeutender Vertreter der humanistischen Fotografie wie Henri Cartier-Bresson, Willy Ronis oder Robert Doisneau.
ZEPHYR – Raum für Fotografie der Reiss-Engelhorn-Museen in C4,12, Mannheim
Eine verschwindende Welt – Hintergrund der Foto-Reportage
Jean-Michel Landon hält in seinen Fotografien eine Welt fest, die langsam und unwiederbringlich verschwindet. Die im Herbst 2005 in den Arbeitervierteln rund um Paris ausgetragenen Unruhen haben das Land erschüttert. Gleichzeitig markieren sie einen sozialpolitischen Wendepunkt, der mit dem Beschluss weitreichendender Stadterneuerungsprogramme einhergeht. Die Häuserblocks, die im Zuge des sozialen Wohnungsbaus seit Ende der 1950er entstanden waren, wurden gesprengt. Baggerschaufeln zermalmten nicht nur die unansehnlich gewordenen
Wohnblöcke, sondern nahmen den ansässigen Bewohnerinnen und Bewohnern auch einen Teil ihres Lebensraumes. Mit dem Versprechen höherer Wohnqualität entsteht seitdem auf den Fundamenten der alten Siedlungen hochwertiger, aber auch teurerer Wohnraum. Während die einen hoffen, in ihren alten Vierteln bleiben zu können, werden einkommensschwache Bevölkerungsgruppen mehr und mehr verdrängt. So bekommen die Vorstädte zwar ein modernes Gesicht, aber Probleme wie soziale Segregation oder Verdrängung durch Gentrifizierung bleiben bestehen und verschärfen sich.