Peter-Matthias Gaede war von 1994 bis 2014 Chefredakteur der Zeitschrift GEO. Zuvor studierte er Sozialwissenschaften in Göttingen und absolvierte die Henri-Nannen-Journalistenschule. Außerdem war er Chefredakteur und später Herausgeber von GEO WISSEN, GEOlino, den GEO Specials und weiterer Ableger von GEO. Nachdem er drei Jahre bei der Frankfurter Rundschau gearbeitet hatte, wechselte er 1983 als Reporter zum Magazin GEO. Peter-Matthias Gaede wurde unter anderem mit dem Reinhard-Wolff-Förderpreis und dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Er ist Mitglied im Stiftungsrat der Körber-Stiftung, im Kuratorium von Reporter ohne Grenzen und der Akademie für Publizistik sowie nach acht Jahren im Vorstand weiterhin Mitglied im deutschen Komitee von UNICEF. In seiner Laudatio auf die Gewinner des ersten Alfred Fried Fotopreises 2013 (heute Global Peace Photo Award) formulierte er erstmals seinen Wunsch nach einem „Menschenrecht auf Schönheit“. Während des gerade zu Ende gegangenen Fotofestivals „open your eyes“ in Zürich fragten wir ihn, was er darunter versteht.
Dasfotoportal.de (dfp): Herr Gaede, Sie werden gern mit Ihrem Wunsch nach einem „Menschenrecht auf Schönheit“ zitiert. Wie meinen Sie das, und zu welchem Anlass haben Sie diese Forderung formuliert?
Peter-Matthias Gaede (PMG): Das geht auf den World Press Photo Award zurück, der ja als „Oscar“ der Fotografie gilt, als wichtigste Auszeichnung in der Welt des dokumentarischen Fotojournalismus. Ich durfte da auch einmal Jury-Mitglied sein, habe ihn aber schon vorher verfolgt und tue das immer noch. Der World Press Photo Award ist so etwas wie die visuelle Chronologie aller Konflikte und Katastrophen, ist Blut, Schweiß und Tränen. Egal, ob es da um die Kategorie „daily life“ geht, die Natur oder sogar den Sport. Sport beim World Press Photo Award sind vor allem Sportunfälle, sind verbeulte Boliden, verzerrte Gesichter beim Boxen oder Footballer, die kopfüber durch Banden krachen. Alles okay, gibt es ja. Aber mich hat schon das Gefühl beschlichen, ob da eigentlich die ganze Welt, der ganze Mensch abgebildet werden. Ob da nicht etwas ausgeblendet wird. Nämlich die Dimension, dass der Mensch nicht immer des Menschen Wolf ist. Dass es ja bei allen Problemen, die wir unzweifelhaft haben, auch das Gelingen gibt. Die guten Initiativen, die positiven Erlebnisse, die Mitmenschlichkeit, die Fortschritte, die Bemühungen um Hilfe und Frieden. Das war ungefähr zu derselben Zeit, als Lois Lammerhuber die Idee zu dem damals noch Erich Fried Award genannten Preis hatte (heute Global Peace Photo Award, Anm. d. Redaktion). Und zusammen hat das zur Zielsetzung geführt, professionelle Fotografen zu ermuntern, ihre Fähigkeiten dafür einzusetzen, ausnahmsweise einmal ihre Kamera um 45 Grad, um 90 Grad zu schwenken und auf das zu richten, was es auch an Gutem auf dieser problematischen Welt noch gibt. Ich bin keiner, der den Globus rosarot anmalen würde. Keinesfalls, das wäre purer Eskapismus, aber wir könnten uns ja die Kugel geben, wenn wir kapitulieren würden und wenn wir ausblenden würden, wie unglaublich viele Menschen sich still darum bemühen, unsere Welt zu einer besseren zu machen. Dabei kam dann auch das Wort „schön“ auf den Tisch. Es ist doch ein menschliches Bedürfnis, mögen das manche auch für banal halten, eine schöne Landschaft zu genießen, einen schönen Moment zu erleben, einen schönen Gedanken zu haben, eine schöne Zweisamkeit zu erleben! Wie vielen Menschen aber ist das alles nicht vergönnt? Da habe ich so vor mich hingesagt: Es müsste auch ein verbrieftes Menschenrecht auf Schönheit geben.
dfp: Aber wir können doch Probleme und Katastrophen, Kriege und Gewalt nicht einfach ausblenden?
PMG: Nein, das können wir wirklich nicht. Die Erklärung der Menschenrechte ist wunderbar – die Realität ist es nicht. Die 54 Artikel der UN-Kinderrechtskonvention lesen sich märchenhaft – und haben bisher kaum etwas an Kinderarbeit, Kinderarmut, der Todesrate von Kindern in Kriegen geändert. Die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen für eine gerechtere Welt sind von 193 Staaten unterschrieben worden – und werden bislang kaum ihrer Verwirklichung nähergebracht. Aber darf man deshalb nicht das Ziel haben, dass sich das ändert? Ist man deshalb nur ein simpler Träumer? Und vor allem: Darf man deshalb nicht jenen eine Stimme zu geben versuchen – oder besser sie zeigen, denn es geht ja beim Global Peace Photo Award um Bilder – , die im Kleinen und manchmal sogar Großen daran arbeiten, unserer Gegenwart das Katastrophische zu nehmen? Natürlich möchten Menschen glücklich sein. Wären nur Interessenausgleich und auch Kommunikation nicht so schwierig.
dfp: Was macht denn Ihrer Meinung nach eine positive Kommunikation so schwierig?
PMG: Ich wiederhole ungern den Satz, der auch im Journalismus oft herangezogen wird: Bad news are good news. Es gibt ja auch immer mal wieder Versuche, Medien nur für die positiven Nachrichten zu gründen, die dann allerdings regelmäßig scheitern. Es scheint auch ein Bedürfnis zu geben, das Drama zu sehen. Aber möglichst das Drama der anderen. Sonst gäbe es bei Unfällen auf Autobahnen keine Staus auf den Gegenfahrbahnen.
dfp: Liegt das vielleicht in der Natur der Menschen?
PMG: Ich weiß es nicht. Neulich war in einer Studie zu lesen, dass Überschriften in Online-Medien, die mit positiven Wörtern operieren, automatisch seltener weitergelesen werden, als solche, die negative Vokabeln verwenden. Und wenn es anders wäre, gäbe es ja beispielsweise die BILD-Zeitung gar nicht. Trotzdem sehe ich darin keine Rechtfertigung dafür, alles zu vernachlässigen, was Menschen auch an Gutem bewirken, und ich bin dafür, nach einem Journalismus der Lösungen zu suchen. Das ist natürlich schwieriger. Weil weniger aufregend, weil weniger sexy, und weil es oft so still ist. Was ist schon die Leistung einer liebevollen Altenpflegerin gegen einen Doppelmord, nur in medialen Dezibel gemessen? Was ist schon eine Initiative auf Sansibar, Mädchen und Frauen das Schwimmen beizubringen, und zwar gegen das Verbot alter reaktionärer Männer, gegen einen Trainerwechsel bei Bayern München? Was sind schon die großartigen Taten der „Ärztinnen und Ärzte ohne Grenzen“ gegen die Meniskusverletzung einer Schlagersängerin?
dfp: Ist es nicht vergebliche Liebesmüh, so etwas vermitteln zu wollen?
PMG: Ich finde es sehr, sehr wichtig, das Verborgene zu vermitteln, alles das, das üblicherweise keine Stimme hat. Die Macht des Lauten kennen wir, die Relevanz des Leisen übersehen wir. Und die Zwischentöne! Ist Afrika der „Katastrophenkontinent“, werden wir ihm gerecht, ihn nur als Ort von Despoten, Hunger, Krieg usw. wahrzunehmen? Gibt es dort keine Lehrerinnen, Ärzte, Wissenschaftlerinnen, start ups, Künstler, Schriftstellerinnen, Handwerker, Bäuerinnen, denen unsere Achtung gebühren sollte? Und um zu uns zu kommen: Ist tatsächlich die neuerdings verbreitete Verachtung gegenüber all unseren Politikerinnen und Politikern angebracht, also gegenüber „denen da oben“? Wer das meint, sollte sich prüfen, sollte sich fragen: Was eigentlich tue ich für die Gemeinschaft? Worin besteht eigentlich mein Beitrag für den Nachbarn? Und da bin ich wieder, sorry, beim Ziel des Global Peace Photo Awards, in dessen Jury ich sitze: Wir möchten diejenigen feiern, die über sich selbst hinauswachsen. Oder einfach nur jene, die Gutes bewirken, indem sie so sind, wie sie sind.
dfp: Sie selbst haben ja in Ihrer Rede bei der Eröffnung des Fotofestivals „Open Your Eyes“ in Zürich die Erfolge von Fotografie und Wissenschaft auf dem Weg zur Einhaltung der 17 Nachhaltigkeitsziele der UN als nicht ausreichend kritisiert, statt das Erreichte zu bejubeln.
PMG: Ja, warum habe ich ein bisschen auf die Bremse getreten nach dem Euphorieschwall, den wir erlebt haben bei diesem wunderschönen Festival? Ich habe manchmal ein bisschen die Angst, dass die zu großen Wörter nicht mehr eingeholt werden. Also wenn wir davon sprechen, dass hier „weltbeste Wissenschaft auf weltbeste Fotografie“ trifft. Natürlich kenne ich das Ranking der ETH (Eidgenössische Technische Hochschule, Zürich, Anm. der Redaktion) als die Nummer 7 weltweit. Ich hege auch keine Zweifel an der Bedeutung der hier vertretenen Fotografen. Nur manchmal denke ich, genauso wie der Katastrophenjournalismus zu einer Ermüdung geführt hat, kann auch manchmal die zu häufige Benutzung von Superlativen zu einem gewissen Misstrauen führen. Schließlich arbeitet die Werbeindustrie derart reichlich mit Übertreibungen, dass ich uns Nicht-Werbern empfehlen würde, ein paar Gramm weniger auf die Waage des Selbstlobs zu legen. Das gibt Glaubwürdigkeitsgewinn.
dfp: Wie kann man Übertreibungen entgegenwirken?
PMG: Wir haben überaus engagierte Fotografinnen und Fotografen, die grandiose Geschichten nachhause bringen. Aber wie wirkungsvoll sind sie letztlich? Damit müssen wir uns konfrontieren. Wir haben Wissenschaftler – nehmen Sie nur den Club of Rome – , die schon seit Jahrzenten vor Klimawandel und einem Biodiversitätskollaps warnen. Es gibt also keinerlei Grund für Schönfärberei, wenn wir auf das sehen, was die Fotografie oder die Wissenschaft bislang verändert haben. Nur: Entlässt uns das aus weiteren Bemühungen? Nein, tut es nicht.
dfP: Demnach wäre Schönfärberei auch Kapitulation?
PMG: Ja, eine Unterart davon. Und doch bleiben auch Träume und Visionen wichtig. Mit „the sky is the limit“ werden wir scheitern. Wir sollten auf dem Boden bleiben. Oft genug kolportiert: Auch eine 1.000 Kilometer lange Wanderung beginnt mit dem ersten Schritt. Um den geht es. Und um den zweiten und dritten. Und darum, wem wir bei diesen Schritten begegnen, mit wem wir uns verbünden können. Wir sind doch nicht alleine. Es gibt doch die andere, den anderen. Mit der oder dem wir, um auf unser Thema zurückzukommen, die Momente des Schönen feiern können. Realistisch, ohne uns zu besaufen.
dfp: Also Schönheit genießen, aber die Augen vor den Problemen nicht verschließen?
PMG: Wenn Sie das „open you eyes“-Festival damit meinen: Da sind ja beide Dimensionen drin. Schon die hier gezeigte Fotografie ist relevant, aber die ETH hat da noch einmal eine andere Ladung an Substanz reingebracht. Beide zusammen zeigen ja die Probleme dieser Welt. Und gerade deshalb haben sie auch die Kraft, das Begehr nach Lösungen und Harmonie zu wecken und das Bedürfnis nach einer schöneren Welt als legitimes Recht zu würdigen.
dfp: Herzlichen Dank für das Gespräch! Wir hoffen, dass es möglichst Vielen die Augen öffnet und der Wunsch nach einer schöneren Welt sich Schritt für Schritt erfüllt.