Gerd Ludwig ist ein vielfach ausgezeichneter und in zahlreichen internationalen Ausstellungen, auf Fotofestivals, von Galerien und Magazinen gefeierter Dokumentarfotograf. Er studierte bei Professor Otto Steinert an der Folkwang Schule in Essen, Deutschland. Nach seiner Übersiedlung in die USA gehörte er drei Jahrzehnte zum Kernteam des National Geographic Magazine. Für seine herausragende Arbeit wurde er u. a. mit der University of Missouri Medal of Honor und dem Dr. Erich Salomon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh) ausgezeichnet. Seine engagierten Berichte über die Folgen der Katastrophe von Tschernobyl sind ein inspirierendes Beispiel für den modernen Fotojournalismus. Diese berührenden und erschreckenden Aufnahmen waren unter anderen im Naturhistorischen Museum in Wien, in einer aufrüttelnden Ausstellung im Marine-Komplex während des Umweltfotofestivals «horizonte zingst» zu sehen ebenso wie beim Fotofestival „La Gacilly-Baden Photo“ bei Wien und jetzt auch beim Festival „Open Your Eyes“ in Zürich.
Seit Gerd Ludwig 1993 damit begann, die Folgen der Umweltkatastrophe von Tschernobyl zu dokumentieren, hat er bis heute zwölf Mal die Sperrzone um das ehemalige Atomkraftwerk besucht. Daraus entstand die vermutlich umfangreichste Dokumentation einer der schlimmsten Umweltkatastrophen unserer Zeit. Das Ergebnis zeigt – wie es im Katalog zum Festival „Open Your Eyes“ heißt – eine zutiefst persönliche Reise in eine für immer veränderte Landschaft und einen erschreckenden Bericht über eine ökologische und menschliche Tragödie. Von den Opfern, die mit den seelischen und körperlichen Folgen leben, über die Sperrzone, die durch die Evakuierung von mehr als 250 000 Menschen entstanden ist, bis hin zur verlassenen Stadt Prypjat, die einst aufgrund ihrer Lebensqualität ein Traum der Wissenschaftler:innen war, heute aber unbewohnbar ist, ist es ein Bericht über schier unglaubliches Leid.
Unter enormem Zeit- und Strahlungsdruck wagte sich Gerd Ludwig tiefer als jeder andere westliche Fotograf in den Unglücksreaktor #4, der nun für mindestens 100 Jahre unter dem «New Safe Confinement» verschwunden ist. Entstanden ist ein Werk zum Gedenken an jene, die ihr Leben verloren haben, und jene, die noch immer unter dieser Tragödie leiden. Ein emotionales, zum Nachdenken anregendes Zeugnis der bisher schlimmsten Atomkatastrophe der Welt.
Im Oktober wird Gerd Ludwig nun erneut nach Tschernobyl reisen und seine Dokumentation fortsetzen. Wir trafen den Deutsch-Amerikaner in Zürich und haben ihn gefragt, was ihn antreibt.
dasfotoportal.de (dfp): Gerd, was hat Dich dazu bewogen, Dich erneut den lebensbedrohenden Gefahren zu denen neben der noch immer existierenden Strahlung auch noch die von den russischen Besatzern bei ihrem Rückzug mit unzähligen Minen versehenen Sperrzone auszusetzen?
Gerd Ludwig: Ich habe das erste Mal 1993 in Tschernobyl fotografiert und zwar als Bestandteil einer Geschichte über Umweltverschmutzung in der ehemaligen Sowjetunion.
Damals war ich relativ frei, selbst zu entscheiden welche Ziele ich ansteuere und da war Tschernobyl natürlich ein ganz wichtiger Bestandteil. Es ging nämlich nicht nur um Russland. Es ging um Russland, die Ukraine und Kasachstan. Als ich 1993 dann das erste Mal in der Sperrzone war, sah ich mich konfrontiert mit einer wirklich apokalyptischen Welt, die sich gerade deswegen auch als fotogen erwies. Aber wir müssen uns als Fotografen immer darüber im Klaren sein, dass wir nicht dem Reiz verfallen, den man im Amerikanischen als „Ruin Porn“ bezeichnet. „Ruin Porn“ ergötzt sich an diesem Verfall, der oberflächlich gesehen erst einmal fasziniert. Mir war es jedoch wichtig, Bilder zu präsentieren, die den Horror und die Tragik dieser postapokalyptischen Welt spürbar machen.
dfp: Inzwischen ist diese erschreckende und aufrüttelnde Reportage ja um die ganze Welt gegangen. Sie ist zu einer der Reportagen überhaupt über diesen Schreckensort geworden, die auf ganz vielen Ausstellungen und Festivals gezeigt wurde. Aber irgendwie ist sie für Dich bis heute nicht abgeschlossen?
Gerd Ludwig: Tschernobyl ließ mich einfach nicht los, ich verspürte diesen inneren Drang, immer wieder zurückzukehren. Ich war noch mal im Jahr 2005 dort und dann immer wieder in 2011, 12, 13 und 14, so dass das Thema zu einer Art Lebenswerk geworden ist. Diese Arbeit überschnitt sich mit einem weiteren Thema, das mich parallel beschäftigt, das ist die Auseinandersetzung mit den Veränderungen in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion. In Tschernobyl verschmelzen zwei Erzählstränge, die mich seit vielen Jahrzehnten faszinieren: die sozioökonomischen Veränderungen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und die ökologischen Herausforderungen unserer Zeit.
dfp: Insgesamt hast Du bis heute drei Bildserien publiziert und schließlich auch das Buch „The Long Shadow of Tschernobyl“ herausgegeben, das in drei Sprachen in der Edition Lammerhuber erschienen ist. Bei Deinen jüngsten Reisen entstand auch eine andere Serie, die das neue Russland zeigte, die beim Festival in Baden bei Wien zu sehen war?
Gerd Ludwig: Ja, ich glaube ich habe allein für National Geographic zwölf Geschichten in der ehemaligen Sowjetunion fotografiert. Nur bin ich leider sprachlich völlig unbegabt und spreche trotzdem nicht russisch.
dfp: Ja, aber wie machst Du das, diese unglaubliche Nähe zu den Menschen zu finden, die in Deinen Bildern zum Ausdruck kommt?
Gerd Ludwig: Ich hatte das große Glück bei meiner ersten Reportage in Russland zufällig auf einen Menschen, Maxim zu treffen, der dann mein Assistent wurde und der danach 30 Jahre lang für mich als Assistent gearbeitet hat. Maxim ist ein echter Freund geworden, der stets auch dem Regime sehr kritisch gegenüberstand. Beim Versuch, heikle Themen zu fotografieren, kam es oft vor, dass Bürokraten Maxim mitteilten, dass bestimmte Teile des Gesprächs nicht für die Ohren eines „Ausländers“ bestimmt seien. Sobald sie uns jedoch aus den Augen ließen, erzählte er mir ausführlich davon. Mit der Zeit prägte ich mir die russische Redewendung ein. Und wenn ich sie dann gehört habe, wusste ich, jetzt muss ich besonders aufpassen, was gesagt wird um vielleicht ein wenig davon aufzuschnappen. (lacht)
dfp: Nun hast du ja vor, jetzt im Oktober noch einmal wieder nach Tschernobyl zu gehen, mit welchem Ziel und warum machst du das?
Gerd Ludwig: Wie bereits erwähnt, ist Tschernobyl zu einem Lebenswerk für mich geworden, und es ist an der Zeit, ein Update vorzunehmen. Nun möchte ich mich auf die Dokumentation der Schäden konzentrieren, die russische Soldaten während ihrer kurzen Invasion verursacht haben. Ohne es zu wissen, haben sie in einem der am stärksten verstrahlten Gebiete der Zone, bekannt als der Rote Wald, Schützengräben ausgehoben. Leider birgt das Fotografieren dieser Schützengräben zusätzliche Gefahren, da russische Militäreinheiten vor ihrem Abzug Landminen hinterlassen haben.
dfp: National Geographic ist als Auftraggeber leider weggebrochen und Du musstest die Reise durch eine Kickstarter Kampagne finanzieren…
Gerd Ludwig: Ich habe auch die letzte Veröffentlichung in National Geographic schon so vorfinanziert. Das hat auch diesmal wieder geklappt. Es war zwar ein bisschen schwieriger als zuvor, weil vor zehn Jahren als ich die letzte Kickstarter Kampagne gemacht habe, es noch Blogs wie Verge, Wired, Vice oder die Huffington Post gab, die damals alle über meine Kickstarter Kampagne berichtet haben, weil Crowdfunding damals noch etwas Neues war, noch in den Kinderschuhen steckte. Heute haben diese Blogs keine so große Bedeutung mehr. Aber jetzt ist ja auch noch zusätzlich Krieg in der Ukraine. Also ist es aus mehreren Gründen nicht gerade prickelnd hinzufahren mit einer kugelsicheren Weste anzureisen und mit einem Helm. Das macht die Regierung der Ukraine zur Bedingung.
dfp: Demnach bist Du ganz offiziell dort und hast Dich offiziell akkreditiert und was ja auch heißt, dass Du sehr wahrscheinlich dort hinkommst, wo du hin willst?
Gerd Ludwig: Ja, da habe ich Glück gehabt. Erstmal sind ja alle Beziehungen weggebrochen, die ich ursprünglich hatte. Meine Assistenten damals waren alle Russen. Die Ukrainer reden nicht mehr mit Russen. Somit sind alle meine wertvollen Kontakte, die ich in der Region hatte, verloren gegangen. Aber ich hatte im Jahre 2011 eine Ausstellung in London bei der European Bank of Reconstruction. Das ist die Bank, die von den Dutzenden Geberländern, die Gelder eingesammelt hat, für das neue Dach, das über den Reaktor geschoben wurde. Diese Kuppel hat die Geberländer etwa 1,5 Milliarden Euro gekostet. Die Bank hatte 2011 bei mir angefragt, ob ich in ihren Headquarters in London eine Ausstellung zeigen könnte. Der Grund dafür war das geplante Treffen der Staatschefs der Geberländer zum 25. Jahrestag des Reaktorunfalls in Tschernobyl. Zuerst fragte ich: Kennt ihr überhaupt meine Fotos? Sie glorifizieren nicht euren beeindruckenden Kuppelbau, sondern sie zeigen die anhaltenden Probleme in Tschernobyl. Die erstaunliche Antwort lautete: Genau das ist das, was wir wollen. Die Geberländer haben immer noch nicht die versprochenen Zahlungen geleistet, und wir möchten verdeutlichen, dass weiterhin Bedarf besteht.
Dann hat sich allerdings die Ukraine eingeschaltet und gefragt, warum man sich in London treffen wolle, wenn es um Tschernobyl geht. Also wurde kurzfristig umdisponiert und man hat sich in Kiew getroffen. Aber in London haben sich alle Botschafter getroffen. Ich selbst konnte zur Eröffnung nicht kommen und so wurde die Ausstellung schließlich von einem der maßgeblichen Direktoren dieser Bank eröffnet.
Nachdem meine exzellenten Kontakte nach Tschernobyl weggebrochen waren, habe ich Anfang des Jahres angefangen die Verbindung neu herzustellen. Zunächst bei der Bank, die mein Anliegen dann nach Tschernobyl weitergegeben hat. Nur dadurch ist es mir gelungen, wieder die Genehmigung für den Zutritt der Sperrzone zu bekommen. Das war ein wirklich komplizierter Weg. Aber ich komme jetzt wieder rein in diese hoch verstrahlten Gebiete unterhalb des Reaktors.
dfp: Das ist ja nicht so ganz ohne Gefahren. Wie schützt du dich da?
Gerd Ludwig: Damals habe ich mich mit drei Millimeter dicken Plastik Overalls geschützt, wie sie auch die Arbeiter, mit denen ich damals unterwegs war, trugen. Die haben zusätzlich auch noch Sauerstoffmasken getragen. Aber als Fotograf kannst du natürlich nicht mit einer Sauerstoffmaske fotografieren. Also das war schon gefährlich. Die Arbeiter, die ich begleitet habe, mussten Vertiefungen in den Beton fräsen und ich musste diesem radioaktiv verseuchten Betonstaub ausweichen. Ich habe zwar einen Mundschutz getragen aber eben keine Gasmaske. Die Arbeiter durften sich allerdings nur eine Schicht von 15 Minuten pro Tag in den verstrahlten Gebieten aufhalten. Auf dem Weg dahin, wo sie arbeiten mussten. sind wir durch dunkle Treppen und Tunnels mehr gestolpert als gegangen. Der Adrenalinschub war unglaublich, denn ich wusste, dass mir nur weniger als 15 Minuten blieben, um eindringliche Fotos in einem Bereich zu machen, den nur wenige jemals gesehen haben. Und bereits nach der Hälfte der erlaubten Zeit begannen unsere Dosimeter zu piepen, – ein unheimliches kakophonisches Konzert, das uns signalisierte, dass unsere Zeit bald ablief.
dfp: Haben diese Besuche bei Dir irgendwelche Schäden verursacht?
Gerd Ludwig: Nein also ich habe ich habe mich dann danach gleich untersuchen lassen und zwar haben das in Amerika sogar die NIH (National Institutes of Health) gemacht. Da hat man mich wirklich absolut durchgecheckt. Als Gegenleistung von mir haben sie nur einen Bericht haben wollen. Ich sollte den Leuten erzählen, wie das wirklich vor Ort aussieht. Darüber gab es ja kaum Augenzeugenberichte.
dfp: Mit welchen Gefühlen gehst du jetzt wieder nach Tschernobyl?
Gerd Ludwig: Schon ein bisschen mit gemischten Gefühlen. Als derjenige Fotograf, der ganz konsequent, seit 1993 – also über 30 Jahre – die Veränderungen der Sperrzone dokumentiert hat, kann ich nicht einfach aufhören. Ich bin oft gefragt worden, ob ich nicht auch andere Reaktor-Ruinen besuchen will, wie zum Beispiel Fukushima. Das habe ich immer abgelehnt, weil mich Tschernobyl immer wieder durch neue Entwicklungen überrascht.
dfp: Eine dieser Entwicklungen hat Deine Ausstellung auf dem Fotofestival „La Gacilly-Baden Photo“ bei Wien gezeigt. Eine Reportage darüber, wie sich der Alltag der Menschen in der Gegend von Tschernobyl verändert hat.
Gerd Ludwig: Ja das waren Bilder als Tschernobyl sich zur Attraktion für eine Art Katastrophentourismus entwickelte. Ich habe eine ganze Geschichte darüber fotografiert, die dann in National Geographic erschien und in Perpignan bei Visa pour l’Image ausgestellt wurde. Jetzt sind es die Folgen der russischen Invasion. Es gibt also immer wieder solche überraschenden Veränderungen. Dies zu dokumentieren möchte ich weiterführen.
dfp: Auch wenn Du Deine Gesundheit durch die radioaktive Strahlung dort immer wieder aufs Spiel setzt?
Gerd Ludwig: Es hat für einen Fotografen auch große Vorteile. Wenn das Licht ausgeht, bin ich der einzige den man noch sieht, weil ich so strahle und ich brauche dann eigentlich auch keinen Blitz mehr, denn ich benutze mich selber als Lichtquelle (lacht).
dfp: Gerd danke für diese gründlichen Hintergrundinformationen zu Deinen bewegenden Fotografien. Wir wünschen Dir alles Gute für die aktuelle Reise im Oktober. Komm wieder gesund nach Hause!
Von den vielfach ausgezeichneten Arbeiten von Gerd Ludwig über die Katastrophe von Tschernobyl gibt es in der Edition Lammerhuber einen ebenfalls mit Preisen überhäuften Bildband, sondeern zudem auch eine Collectors Edition.:
Der lange Schatten von Tschernobyl – Collectors Edition
Signierte und nummerierte Auflage von 100 Stück mit beigelegtem signierten Print
Spektakuläre und berührende Bilder von National Geographic Fotograf Gerd Ludwig über die größte nukleare Katastrophe der Geschichte und ihre Auswirkung auf die Menschen.
Mit einem Essay von Michail Gorbatschow.
Gerd Ludwig
Michail Gorbatschow
29 × 31 cm
252 Seiten
127 Fotos
Deutsch, Englisch, Französisch
Hardcover, Schuber
Signierte und nummerierte Auflage
Dem Buch beigelegter Pigmentprint „Lenin in Pripyat“
Signiert und nummeriert, Auflage 100 Stück
Format: 29,7 cm × 21 cm
ISBN 978-3-901753-66-4
Mai 2014
€ 450.00
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