Wie meinte der Literaturkritiker Denis Scheck? „Lesen macht schön, schlau und sexy!“ Zumeist bieten wir Ihnen Meldungen rund um die Fotografie, die mit vielen Bildern eher in kurzer Zeit zu lesen sind. Jetzt bieten wir Ihnen einen sehr ausführlichen Text der österreichischen Autorin Raphaela Edelbauer die für Sie ihre Beziehung zur Fotografie darlegt. Anstoß zu diesen sehr interessanten Ausführungen war das letztjährige Festival La Gacilly-Baden Photo. So geht jetzt das Wort an Raphaela Edelbauer und wir hoffen doch sehr, dass Sie sich die Zeit nehmen diesen Artikel mit allem Interesse zu lesen – es lohnt sich!
In jener Arroganz, die oft ungerechtfertigterweise Komponist:innen, Maler:innen oder Autor:innen befällt – jene Künstler also, die vom weißen Blatt aus zu arbeiten beginnen – kultivierte ich zuweilen sogar die Ansicht, dass sie in diesem Sinne gar keine wirkliche Kunst sei. War nicht das Motiv mindestens ebenso die Leistung der Welt wie der Fotograf:innen, die dann bloß noch im richtigen Moment auslösten? Um diese eher geistlose Ansicht, die ich zum Glück seit Langem verworfen habe, soll es hier aber nicht gehen. Vielmehr rufe ich sie nur deswegen noch einmal wach, um entschuldigend meine anfangs zitierte Ahnungslosigkeit zu illustrieren und zu beweisen.
Kurzum: Als ich vergangenes Jahr das Festival La Gacilly-Baden Photo besuchte, war dies nicht nur der erste Aufruf, der an mich ergangen war, mich eingehend mit diesem Medium auseinanderzusetzen. Es war, und das ist vielleicht viel wichtiger, auch das erste Mal, dass mich Fotografien in dieser Weise berührten. Das war ganz unmittelbar der Fall: Seien es die beeindruckenden Landschaftsaufnahmen von Gregor Schörg, der die scheinbar so disparaten Worte Urwald und Niederösterreich bildlich vereinte, Ebrahim Noroozis traumartige
Farbflächen am Urmiasee oder George Steinmetz’ bestürzender Blick auf globale Essensproduktion. Auch das Thema Orient war durch hochkarätige Künstlerinnen aufwühlend vertreten, und vom künstlerischen Niveau der Darstellungen will ich gar nicht anfangen – Sie wissen ja; ich kenne mich eigentlich gar nicht aus.
Es war vor allem die geballte Darstellung der Klimakatastrophen, der zweite Schwerpunkt des Jahres 2023, die mich packte. Man wolle, sagt Cyril Drouhet im Ausstellungskatalog „auf die Verwundbarkeit der Lebensräume in der Welt aufmerksam (…) machen, sich (zu) engagieren und Zeugnis ablegen“. Das ist würdig und recht, dachte ich – das vielleicht wichtigste Anliegen unseres Jahrhunderts, das momentan viele politisch wache Kurator:innen bearbeiten. Aber angesichts solcher Mission Statements stelle ich mir immer dieselbe Frage: Was heißt in diesem Zusammenhang eigentlich aufmerksam machen?
Das ist keine ganz unpersönliche Frage, denn ich versuche in meinen Texten ja nichts anderes und antworte ganz ähnlich, wenn ich nach meinen Motiven gefragt werde. Aber was es genau bedeutet, dieses Aufmerksam machen, oder wodurch es geschieht, das weiß ich noch immer nicht so genau.
Mit diesem Enigma im Kopf wanderte ich durch die eindrücklichen und sehr verschiedenen Ausstellungen. Das, was viele dieser Bilder versuchten, war eindeutig, die Betrachter:innen auf den Todeskampf eines sterbenden Planeten und seine sozialen Implikationen zu verweisen, so viel war klar – aber wie funktionierte das genau?

Mit einer eindrucksvollen Reportage zeigte Money Sharma unter dem Titel „Indisches Nachtstück“ die sichtbaren Folgen der Umweltverschmmutzung
Manche Bilder schockierten, manche verwunderten, manche hatten eine Agenda. War die beste Methode nun die Emotion oder Aufklärung? Ist es durch Schock oder durch Empathie, dass Fotografie „aufmerksam macht“ – und was eigentlich bedeutete es letztlich, mit einem ganzen Landstrich oder gar einer Eisscholle Mitleid zu haben? Es sind dies Fragen, von denen ich als nicht Bewanderte sicher bin, dass sie in allen Bereichen der Fotografie, etwa auch jener sozialkritischen Ausrichtung, wie sie im „Orient“-Teil des Festivals im Mittelpunkt
standen, gestellt werden können. Aber ich halte sie im Bereich, der die Klimakatastrophe dokumentiert, für umso virulenter, weil die Zeit so drängt – und diese Dringlichkeit während des Festivals so deutlich zu spüren war. Wie aber diesen Fragen zu Leibe rücken, wenn ich mich doch, wie ich nun schon zum dritten Mal erwähne, nicht mit dem Medium auskenne, anlässlich dessen ich sie stelle?
Nun, ich hatte da so eine Idee. Es gibt für uns Schriftstellerinnen nämlich eine Technik, die der gegenständlich- konkreten Kunst Fotografie versagt bleibt, und über die wir praktischerweise auch viel über Themen sagen können, mit denen wir uns (noch) nicht beschäftigt haben: die Analogie. Und weil in der Literatur gerade eine Debatte brodelt, die just die Fragen stellt, die mich auch beim Besuch des Festivals so dringend zu beschäftigen begannen, will ich erst einmal jenen Diskurs beschreiben, mit dem ich mich sehr wohl auskenne. Die Debatte,
über die ich hier erzählen will, ist jene der Climate Fiction.
Im Jahr 2016 initiierte der indische Schriftsteller Amitav Ghosh erst mit einem Artikel, dann mit einem ganzen Buch eine Debatte im Literaturbetrieb, die bis heute nichts an Brisanz verloren hat. In The Great Derangement: Climate Change and the Unthinkable kritisierte Ghosh, dass die Prominenz des Klimawandels in der Literatur – ausgenommen lediglich die Science Fiction – quasi nonexistent sei. Wie kann aber eine der wichtigsten Entwicklungen unserer Lebzeit einfach nicht wichtig genug erscheinen, um ins Bewusstsein des Literaturbetriebs zu gelangen? Ghosh, der sich selbst nicht von seiner Kritik ausnahm, sinnierte, dieser Missstand könne darin begründet liegen, dass die westliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bürgerlichen Themen zu Lasten spekulativer Sujets einen entschiedenen Vorzug gegeben habe. Die notwendigen Formen, um das Geschehen des 21. Jahrhunderts adäquat zu beschreiben, seien noch gar nicht entwickelt worden: „If certain literary forms are unable to negotiate these waters, then they will have failed – and their failures will have to be counted as an aspect of the broader imaginative and cultural failure that lies at the heart of the climate crisis.“ Die fehlende Repräsentation des Klimawandels, das hat auch Ghosh später zugegeben, hat sich seitdem verbessert, aber nicht in Wohlgefallen aufgelöst.
Einige Bücher über die Umweltkatastrophe haben tatsächlich für Furore gesorgt: Und dann verschwand die Zeit von Jessie Greengrass zum Beispiel oder Erstaunen von Richard Powers, auf die ich später noch einmal zu sprechen kommen werde.
Ein anderes dieser vom Mainstream wahrgenommenen Bücher ist das vor drei Jahren erschienene The Ministry for the Future des amerikanischen Autors Kim Stanley Robinson, in dem eine fiktive UN-Behörde Maßnahmen gegen den Klimawandel zu entwickeln versucht. Robinson ist der Meinung, dass Prosa ein unverzichtbares Mittel ist, um Umweltpolitik im Verstand der Menschen zu verankern. Jene könne etwas, das Sachtexte oder wissenschaftliche Arbeiten nicht vermöchten. Romane hätten nämlich etwas, dass er als „thick texture“ bezeichnet, eine Unmittelbarkeit der Fiktion, die es dem Publikum ermöglicht, das Geschilderte quasi-sinnlich nachzuvollziehen.
„So fiction can be quite intense, always; and climate fiction is a way of showing what might happen if we don’t deal immediately with our carbon burn. The dangers are real, and imagining them vividly can change actions in the present.” Robinson, der sich in seinem Buch eher an wenig spekulative Szenarien hielt, gehört damit zu jenen Autoren, die versuchen, über emotionale Involvierung seiner Leser:innen dazu beizutragen, die Wichtigkeit des Klimawandels anzuerkennen. Seine Schilderungen einer Hitzewelle in Indien, deren einziger Überlebender Frank May zu einem Hauptdarsteller des Romans wird, ist nicht nur ein Paradebeispiel dieser Eindringlichkeit, die ein Sachtext nicht leisten könnte, sondern hat sich nur zwei Jahre später auch in der realen Welt nahezu identisch abgespielt. Diese Art Text setzt es sich vor allem zum Ziel, Empathie mit weit entfernten Menschengruppen zu erzeugen und die Unmittelbarkeit der Literatur in diesem Sinne zu nützen. Man denke an die Heere von Klimaflüchtlingen, deren Schicksal sich kaum ein:e Österreicher:in vorstellen kann.
Ein anderer, vielleicht noch häufigerer Topos neben der Empathie ist jener des apokalyptischen Szenarios, wie man ihn aus der Science Fiction Literatur kennt. Verwilderte Wüstenplaneten legen Zeugnis von der Misswirtschaft des Homo Sapiens ab, und Überschwemmungen, Hitzewellen und das Leben in futuristischen Steampunk-Städten sollen den Leser:innen vor Augen führen, was uns blüht, wenn wir nicht eine radikale Kehrtwende vollziehen. Viele der Sujets wirken heute nicht mehr so unwahrscheinlich wie zum Zeitpunkt, als die – teils bis in die 60er zurückreichenden – Narrative ersonnen wurden. Auch das vorhin angesprochene Werk von Jessie Greengrass oder der Maddaddam-Zyklus von Margret Atwood gehören zu diesem Typus. Ich würde meinen, dass dieser sich in den vergangenen Jahren zum vorherrschenden Motiv gemausert hat. Hier ist es vor allem Angst – freilich oft in Form eines angenehmen Grusels – die die Rezipient:innen zum Schluss führen soll, dass die Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Form uns unweigerlich in eine Katastrophe führen wird. Und dann wiederum gibt es Texte, die ihre Kraft vor allem in der Aufklärung entfalten wollen – mit Missverständnissen aufräumen, die Aufmerksamkeit in Gebiete lenken, über die man zu wenig erfährt, und die Leser:innen bilden.
literarischen Essays und Reportagen ist der vorher angesprochene Roman Erstaunen von Richard Powers ein Beispiel für eine solche Anlage. In letzterem werden zusammen mit der Geschichte der Baumforscherin Patricia Westerford auch die Leser:innen auf eine ganze Systematik unbekannter Mechanismen der Ökologie aufmerksam gemacht. Diese Art, die Leser:innen anzusprechen, baut auf der Annahme auf, dass es genügt, Menschen gewisse Informationen zur Verfügung zu stellen, um wenigstens bei manchen von ihnen eine Verhaltensänderung zu bewirken. Würden die Leute nur wissen, wie viele Asylwerber im Mittelmeer ertrinken, so könnten sie doch nie… – aber stimmt das?
Ich führe im Übrigen all diese Dinge deswegen so explizit an, weil ich glaube, dass es hilfreich ist, sich zu vergegenwärtigen, was genau all jene Projekte meinen, die momentan “auf den Klimawandel aufmerksam machen” wollen. Ist es Emotion, Aufklärung, ein Was-wenn-Szenario oder aber – wie wohl in den meisten Fällen – eine Mischkalkulation? Und wissen wir, ob all diese Dinge tatsächlich, also erwiesenermaßen, dazu beitragen, die Gesellschaft zu verändern? Oder machen sich nur solche Leute, die ohnehin schon sensibilisiert
sind, gegenseitig „aufmerksam“? Man würde in jedem Falle meinen, dass all diese Ansätze, so unterschiedlich sie auch seien, das Ihre dazu beitragen müssten, das Bewusstsein der Leser:innen für die nahende Klimakatastrophe zu schärfen. Hat Kunst nicht seit jeher aufmerksam gemacht auf drängende Krisen, soziale Problematiken – ist also das Politische an ihr ebenso wichtig wie das Ästhetische? Und muss verstärkte Aufmerksamkeit nicht über kurz oder lang zum sozialen Wandel beitragen? Nun – man würde es sich wünschen, aber erste Daten lassen vermuten, dass dies anders sein könnte.
Eine Studie, die im Magazin Environmental Communication veröffentlicht wurde, kam etwa zu dem Ergebnis, dass das Lesen eines literarischen Textes zum Thema Klimawandel bei Studienteilnehmer:innen zwar zu einem kurzen Umdenken führte, sich innerhalb eines Monats aber wieder verflüchtigte. Eine andere Studie aus dem Jahr 2020 kam zu einem noch wesentlich ernüchternderen Ergebnis, das in Interdisciplinary Studies in Literature and Environment veröffentlicht wurde. Leser:innen, die den bekannten Roman The Water Knive vom
dystopischen Typus zu lesen bekommen hatten, entwickelten die Ansicht, dass angesichts solcher bevorstehender Szenarien ohnedies nichts mehr ausgerichtet werden könne. Paradoxerweise waren die Rezipient:innen also danach weniger geneigt, die Initiative zu ergreifen. Eine dritte Studie in Environmental Humanities wies auf etwas Ähnliches hin: Den Klimawandel mit intensiv negativen Emotionen zu assoziieren, die Horrorbilder und -erzählungen erzeugen, lähmte die Teilnehmer, statt ihr eigenes Verhalten zu hinterfragen.
Mir gefallen diese Ergebnisse nicht – so viel kann ich in jedem Falle sagen. Sollen wir Künstler:innen die Dringlichkeit und auch das Maß dessen, was auf dem Spiel steht, herunterspielen, um die Gesellschaft zu schonen? Wenn nach einem berühmten Zitat von Ingeborg Bachmann die Wahrheit dem Menschen zumutbar ist – wie kann diese Apokalypsen-Stasis dann mit gesellschaftskritischer Kunst zusammengedacht werden? Eben dieser Frage ging auch die Klimaforscherin und -aktivistin Emma Prattee vor einigen Monaten in einem
äußerst aufschlussreichen Artikel namens The False Promise of Climate Fiction nach. Vor allem, so kritisierte Prattee, würde in einer Welt, in der uns der Konsum als Modus Operandi so tief in den Knochen stecke, das Lesen eines Buchs, das Besuchen einer Ausstellung, das Schauen einer Dokumentation allzu oft anstatt einer wirklichen Verhaltensänderung passieren. Eine Art moralisches Anorektikum quasi. In diese Kritik schließt sie sich selbst ein, wie sie in einer Geschichte aus ihrem eigenen Leben illustriert. Nachdem ein Climate Fiction Buch sie so ergriffen hatte, dass sie es weinend in einem Rutsch durchlas, konnte Prattee nicht verstehen, dass Texte wie dieser seine Leser:innen nicht sofort zu Aktivist:innen werden ließ. „But underneath all that optimism, I think I intuitively understood that it is the thing that makes us weep that keeps us from taking to the streets. So many readers, myself included, grew up with books as an escape. Not as a guide.”
In ihrem Artikel zitiert sie auch Cameron Buck, der als Klimaforscher an der Universität Amsterdam tätig ist und über genau diese Blockaden forscht: „If you arouse a lot of concern and grief and terror, if there’s no sense that we can do something to prevent it, and here is concretely what we are doing and here are the people who are helping, then I think you can do a lot of harm potentially. You are just gonna cause people to feel a lot of anxiety and want to disconnect. Obviously, Brick concedes, this only matters if you’re trying to use your novel
to influence change.”
Und mit diesem letzten Satz bin ich beim ersten neuralgischen Punkt dieses Essays angekommen – denn ich denke, dass hier der Hund begraben liegen könnte. Wenn ich oben die verschiedenen Ansätze beschrieben habe, in denen Literatur zum „Handeln bewegen soll“, wie es oft heißt, könnte man zurecht stutzig werden. Denn: Literatur ist kein Manifest und auch keine Bürgerliste, deren vorrangiges Ziel es ist, schon im Vorhinein festgelegte Ziele zu erreichen. Vielleicht kann der Komplexität des vor uns liegenden Themas von künstlerischer Seite nicht mit direktem Aktionismus, sondern mit kreativer Forschung zu Leibe gerückt werden. An dieser sollte ich nun wieder auf die Fotografie zurückkommen.
Warum nun diese ausschweifende Ouvertüre? Dass Fotografie sich in bürgerlichen Idyllen verloren hätte, kann man ihr im Gegensatz zur Literatur des 19. Jahrhunderts wahrlich nicht vorwerfen. Der fragile Zustand von Ökosystemen scheint mir sogar ein zentraler Topos zeitgenössischer Fotografie zu sein. Unser intuitives Verständnis derselben ist innig mit dieser Auffassung verbunden: Prämieren nicht die wichtigsten Preise – etwa der World Press Photo Award –herausragende Bilder, die auch gesellschaftspolitisch wirksam werden, indem
sie uns die Lebensrealitäten krisengebeutelter Regionen vor Augen führen? Hat nicht Nick Uts Napalm Girl damals noch den letzten Hinterweltler von der Grausamkeit des Vietnamkriegs überzeugt?
Angesichts dieser klaren Meinung, die wir von der unmittelbaren Wirksamkeit dokumentarischer Fotografie kultivieren, wird es Ihnen vielleicht schwerfallen, zu glauben, dass die Forschung auch in Bezug auf diese und den Klimawandel ähnliche Dinge zu sagen hat wie zur Climate Fiction. Forscherinnen der University of California und der Universität Exeter publizierten etwa eine Studie, nach der das Betrachten von Fotografien aus Katastrophengebieten – ganz wie bei den Texten – Fatalismus förderte.
Wer sich Fotos riesiger Rinderzuchtanlagen oder von menschlichen Überschwemmungsopfern ansieht, kauft nicht am nächsten Tag lieber Gemüse oder lässt das Auto stehen, sondern wird bloß verzweifelter. Zudem, und vielleicht noch schlimmer, verstärkten die Fotografien aus anderen Teilen der Welt (etwa der Dürre in Indien) bei den Studienteilnehmer:innen die Ansicht, dass es sich beim Klimawandel um ein Problem weit entfernter Regionen handle, das mit dem eigenen Leben wenig zu tun habe.

Maxime Taillez setzte für seine 2023 in Baden gezeigte Serie „Granzen“ alle Aspekte dieses Thema um.
Ich muss an dieser Stelle ein Missverständnis aufklären. Denn ich denke nicht, dass die Botschaft der zitierten Wissenschafter:innen – und schon gar nicht meine – sein kann, dass Fotografie oder Kunst prinzipiell machtlos ist gegenüber den Herausforderungen, die sie behandelt. Schon gar nicht, sollte man diese Studien als einen Aufruf lesen, unpolitische Werke zu schaffen. Vielmehr glaube ich, dass es einer genauen Analyse – einer Bewusstseinsbildung bedarf – um zu verstehen, was exakt die Kernkompetenz der Kunst ist, und wie sie
wirksam wird. Wenn CNN titelt: „Ten photographs that made the world wake up to climate change”, also publicity betreibt, wie sie für dokumentarische Fotografie recht typisch scheint, bleibt nicht nur mysteriös, was exakt damit gemeint ist, sondern man muss sich eingestehen, dass bisher die Welt mitnichten durch irgendetwas aus ihrer Ignoranz erwacht wäre. Oft scheinen Anspruch und Realität auseinanderzuklaffen.
Wenn Sie mit mir nicht übereinstimmen sollten, seien Sie übrigens beruhigt: Was ich hier vertrete, ist eine heutzutage unpopuläre Meinung. Häufiger ist die gegenteilige Ansicht, die man Theory of Social Representation nennt. Einer solchen Ansicht begegnen wir etwa in Debatten, in denen es um die Repräsentation von Minderheiten in den Medien geht. Sie spricht sich im Grunde dafür aus, dass alleine Menschen in gewissen Situationen zu sehen – eine/einen Schwarze:n als Präsident:in oder eine Frau als Pilotin – ein wichtiges Kriterium darstellt, um
sozialen Wandel zu bedingen.
Die Ansicht, dass Fotos eines gesellschaftlichen Missstandes der Weltöffentlichkeit zu präsentieren, schon den ersten Schritt der Initiative gegen diesen Missstand führt, ist dieser „Repräsentationstheorie“ verwandt. Beiden liegt die zutiefst humanistische Haltung zugrunde, dass der einzige Grund, warum Menschen ihr Verhalten nicht ändern, mangelnde Information sei – und dass somit diese Information, wenigstens bei einem Teil der Rezipienten, „automatisch“ ein Umdenken bedinge. Man könnte als Beispiel für ein Bild, dessen Verbreitung für einen gesellschaftspolitischen Diskurs gesorgt hat, Nilüfer Demirs berühmtes Bild des ertrunkenen dreijährigen Alan Kurdi denken. Er wurde 2015 zum Symbol jener verzweifelten Menschen, die sich zur Reise über das Mittelmeer entschließen. Sicherlich – das Bild ging „um die Welt“, wie man sagt, und erzeugte selten gesehene Anteilnahme. Aber wir müssen uns der Frage stellen: Ist diese Anteilnahme – dieses Weinen, das auch Prattee beschrieb – wirklich der Endzweck, wie es dargestellt wird? Anders gefragt: Ist die Anteilnahmebereits ein Politikum und als solches nachhaltig wirksam?
Es ist natürlich schwierig, die „Wirkung“ eines Bildes in direkten Parametern zu messen, aber dass sich durch die Anteilnahme nachhaltig etwas geändert hätte (prozentuell sterben auf der Flucht über das Mittelmeer nicht weniger Asylwerber als 2015), kann man nicht sagen. Erstens weil man die wenigen Bilder, die tatsächlich zu viraler Wirksamkeit gelangen, an einer Hand abzählen kann, und somit nicht zur Regel für Fotografie per se erheben sollte. Man kann auch nicht z.B. das kommunistische Manifest zu einem Exempel für die generelle
Wirkmächtigkeit von Texten stilisieren. Und zweitens, weil ohne demokratisch wirksame Mechanismen, auf die der Same des „Aufmerksammachens“ fällt, sich nichts ändert – sondern im schlimmsten Falle ein wichtiges Anliegen in einem bloßen Social Media Hype versanden kann.
Am anderen Ende der Skala stehen wiederum Ansichten, wie die des Kriegsfotografen Eros Hoagland, der zu dem ernüchternden Urteil kommt: “My pictures and the pictures of my colleagues, they don’t really change anything. So let’s not pretend like they do. You want to help people? Become a doctor and work in some poor neighborhood where people can’t afford health care. That’s how you help people.”
Ich stimme mit beiden Ansichten nicht überein; weder mit der, dass Veränderung allein durch Repräsentation und das Ansehen von Bildern oder das Lesen von Texten erwirkt werden kann – und auch nicht mit jener, dass nur, weil der Kunst die strikte Wenn-Dann-Kausalität der politischen Maßnahme abgeht, sie gar nicht wirksam wird.
Ich glaube dafür, dass zwischen diesen beiden Extrempositionen ein großes Aber anzubringen ist. Denn was wir bis hierher besprochen haben – und zwar im Optimistischen wie Pessimistischen – war ein in Wirklichkeit naiver Begriff von der Wirksamkeit von Kunst. Es gibt aber noch andere Mechanismen, in denen etwas die Welt verändern kann, statt nur den direkten, messbaren, quantifizierbaren, und dass davon sowohl die Fotografie als auch die Literatur nur so strotzt, das ist für mich unzweifelbar. Von diesen Mechanismen aber soll der finale
Abschnitt dieses Essays handeln.
In einem berühmten Zitat sprach George Orwell davon, dass alle Kunst Propaganda sei. Zum Glück fügte er noch hinzu: „Aber nicht alle Propaganda ist Kunst.“ Was Orwell hier meint, ist ein Verständnis von Propaganda als einer Durchformung von Information oder ästhetischen Mitteln, die dazu geschaffen wurde, Meinungen zu ändern oder bestimmte Handlungen zu motivieren. Ursprünglich als Seitenhieb auf Charles Dickens gemeint, stimme ich im Übrigen nicht zu – glaube aber, dass ein Fünklein Wahrheit in diesem Aphorismus steckt. Zum einen denke ich nämlich tatsächlich, dass gute Kunst immer eine Agenda hat und dass sie die Rezipient:innen verändert zurücklassen sollte – wozu sie sonst überhaupt schaffen?
Auf der anderen Seite ist nicht alles, was eine Agenda hat, auch Propaganda. Eine demokratische Debatte, in der Parteien einander überzeugen wollen, ist ideologisch mitunter sehr aufgeladen, aber nicht notwendigerweise propagandistisch. Ich würde den Unterschied zwischen den beiden Gebieten so formulieren:
Propaganda geht von einem vorher festgelegten Schluss aus und stimmt ihre Mittel ausschließlich auf diesen ab. Ihre Dramaturgie ist Schein – es gibt keine ernsthafte Auseinandersetzung mit Gegenargumenten, denn ihr einziger Zweck ist das im Vorhinein festgelegte Ziel. Propaganda muss im Übrigen nicht niederträchtig gemeint sein oder gar Unterjochung bezwecken. Auch eine Werbefotografie hat Aspekte der Propaganda, weil, egal wie gut sie ist, nie in Frage steht, dass der Wrigleys-Kaugummi dabei die positiv konnotierte Hauptrolle spielen
wird. Ein solches Bild ist sozusagen eine Antwort auf eine Frage, die man gar nicht gestellt hat. Kunst hingegen ist eine Frage, für die es keine eindeutige Antwort gibt. Sie bedeutet zuvorderst ein Forschen, formell ins Ungewisse aufzubrechen. Und wenn ich reflektiere, was mich just am Festival La Gacilly-Baden Photo für die Fotografie eingenommen hat, ein Medium mit dem ich mich (ich klinge wie eine hängen gebliebene Schallplatte) nicht auskenne, dann ist es genau das. Im Gegensatz zur Absichts-Kunst, zur moralinschwangeren Emotionsklaviatur, die ich sonst in Bezug auf den Klimawandel oft gesehen habe, sind die meisten der gezeigten Bilder nichts anderes als Fragen.

Aufrüttelnde Bilder auf dem Festival La Gacilly-Baden Photo: Gabriele Cecconi fotografierte die Kinder beim Aufbau eines Zeltes bei einem Rohingya Flüchtlingslagers
Wenn Gabriele Cecconi etwa binnenvertriebenen Rohingya begleitet, dann spiegeln seine Bilder eine Komplexität wider, die der Auseinandersetzung mit dem Klimawandel oft fehlt. Fern davon, die muslimische Minderheit bloß als Opfer zu inszenieren, zeigt Cecconis Ausstellung auch die ökologischen Katastrophen, die die Menschen auf der Flucht unwissentlich erzeugen: Entwaldung und Druck auf die Tierwelt etwa. Diese Bilder wollen weder apokalyptischen Horror zeigen – wir sehen die Rohingya-Kinder auch in ganz alltäglichen Szenen
spielen wie Kinder in allen anderen Erdteilen – noch wollen sie einfache Lösungen anbieten. Es sind Fotografien, die das Paradox nicht leugnen und das menschgemachte Chaos in seiner Unentrinnbarkeit zeigen. Das bedeutet es eben, Fragen zu stellen und nicht vorgefertigte Antworten zu liefern.
In eine ähnliche Richtung führen die Schwarz-weiß-Fotografien von Bernard Descamps, die in der Mehrzahl ohne Menschen auskommen. Seine Bilder wollten, heißt es, „die Wirklichkeit verstehen“ – einen Prozess begründen, der dem Moment eine visuelle Struktur verleihe, ohne mit einer vorgefertigten Meinung oder gar Moral an das Abgebildete heranzutreten. Eine solche Auffassung von Fotografie tritt als Forschungsmittel an die Welt heran, statt von einem auf Biegen und Brechen vorherbestimmten Ziel auszugehen.
Diese Herangehensweise bedeutet auch für die Betrachter:innen ein anderes Erlebnis, wie Jérôme Blin sowohl ästhetisch, als auch in einem Text feststellt. In seiner Ausstellung sehen wir junge Menschen, die zwischen der Modernität ihres Äußeren und der sie umgebenden Tristesse unverortbar bleiben. Die Bilder versuchen, diesen Widerspruch – das in der Vergangenheit herabgewirtschaftete Umland und die ihren Lebensweg beginnenden Jugendlichen – nicht aufzuheben. Er tritt etwa in der Diskrepanz zwischen dem Nasa-Pulli einer jungen Frau und den terrestrischen Holzlatten eines Stalls, vor dem sie steht, auf. Die Betrachter:innen müssen sich einen Teil des Narrativs selbst erschließen oder wie Blin sagt: „Mein Ziel ist ein offenes Fotografieren, das vom Dokumentarischen ausgeht, dabei aber einfühlsam, poetisch und bildnerisch bleibt. (…) Ich gehe von der Wirklichkeit aus, überlasse aber alles andere dem Betrachter.“
Dieses „Poetische“ ist nicht allein eine ästhetische Entscheidung, sondern tut auch etwas Entscheidendes mit dem Gezeigten. Wenn in Money Sharmas Fotografie des Chhath Puja-Festes Frauen in einem von Toxinen stockenden Fluss religiöse Rituale durchführen, ist dies eben nicht nur das Bild einer dräuenden Apokalypse, sondern zeigt auch eine außergewöhnliche Resilienz.
Dem kuratorischen Feingefühl ist es zu verdanken, dass beim Festival La Gacilly-Baden Photo Positionen dominieren, die diese Offenheit kultivieren – Kunst eben und nicht künstlerische Propaganda. Es ist keine „Botschaft“, die aus solchen Bildern spricht, es sind eher offene Impulse an die Gesellschaft. Natürlich ist ein solcher Zugang weniger sensationsheischend, titelblatttauglich und „viral“. Er braucht
Auseinandersetzung vonseiten der Betrachter:innen und hat nicht den Gruselzauber der reinblütigen Katastrophendarstellung. Aber, davon bin ich überzeugt, er schafft es, mit dem tiefen Widerspruch umzugehen, mit dem ich im ersten Teil eröffnet habe. Im Gegensatz zu Politik kann Kunst die Dinge nicht direkt, nicht mit rein ideologischen Mitteln (obschon ideologisch zu sein, für den:die Künstler:in durchaus möglich ist) erreichen, und deswegen ist die Rede davon, was Climate Fiction, was Fotografie „gegen den Klimawandel tut“ von vornherein eine Themenverfehlung. Zum jetzigen Zeitpunkt haben wir nicht nur keine Antwort – wir haben noch nicht einmal gelernt, die richtigen Fragen zu stellen. Eine Literatur wie eine Fotografie, die dies behauptet und einen solchen Anspruch nicht durch Brechungen formeller oder inhaltlicher Natur unterwandert, kann zu einem Schuss nach hinten werden. Im Gegensatz zum Horrorszenario gibt es in all diesen Ausstellungen stets etwas, das zwar im Bild angelegt ist, sich aber in den Betrachter:innen fertig entfalten muss. Die Bilder sind wie Aufgaben, die jeder für sich selbst lösen muss – oder mehr noch, die wir alle gemeinsam im Diskurs lösen müssen. Gerade weil sie keine direkten Aufforderungen sind, wirken sie länger und vielfältiger nach als ein bloßes Schockfoto. Solche Kunst ist als Wahrnehmungsschulung zu verstehen und nicht als Tränendrüsen- Spektakel, das eine bestimmte „Emotion“ erzeugen soll. Um wieder auf meine ursprüngliche Frage zurückzukommen, ob es also Bewusstseinsbildung, Gefühl oder das Zeichnen von Horrorszenarien ist, das die Leute am ehesten dazu bringt, etwas zu verändern, kann man sagen: Alle drei sind veritable Mittel, aber nicht für sich genommen das Ziel. Weder Gefühlsausbrüche, noch Zukunftsängste oder reine Informationsversorgung sind geeignet, Menschen für sich allein zum Handeln zu bringen – und schon gar nicht, ist das die Kernkompetenz der Kunst per se. Offenheit ist hier oft effizienter, als sich auf eine sogenannte „Botschaft“ festzulegen. Vielleicht hat mich das Festival La Gacilly-Baden Photo in seiner Gesamtheit so beeindruckt, weil dieses Credo so konsequent durchgehalten wurde. (Dass man auch in der Ambiguität Position beziehen kann, zeigten im Übrigen auch die Ausstellungen zum Nahen Osten, aber das wäre schon genug Material für einen weiteren Text.)
Vielleicht habe ich mich also doch mit der Fotografie angefreundet und werde mich sogar eines Tages damit auskennen? Dass die Kurator:innen in Baden auch in den kommenden Jahren die Zwischentöne navigieren werden, die in einer immer komplexer werdenden Welt zum neuralgischen Punkt jeder intellektuellen Auseinandersetzung wird, bezweifle ich jedenfalls nicht. Dass man die Leute in einem Gewaltmarsch über mehrere Stunden bei brütender Hitze durch alle(!) Ausstellungen führt, mag mir persönlich missfallen haben, bedingt aber das Programm. Hier geht es nicht um Effekte oder kurze emotionale Reaktionen, sondern um Immersion in sorgfältig abgestimmte Bilderwelten. Vielleicht ein letztes Beispiel, um noch einmal abschließend zusammenzufassen, was ich meine: Maxime Taillez Grenzen war eine Ausstellung, die mich besonders beeindruckte, und zwar nicht, weil etwas Unerhörtes, Bestürzendes zu sehen gewesen wäre. Ganz im Gegenteil.Die Bilder zeigen arbiträre Linien, die über das Schicksal von Menschenmassen und ganzen Ökosystemen entscheiden, und da ist einfach – nichts. Die Auslassung ins Bild zu setzen, und damit die Unsichtbaren Implikationen doch genau zu treffen – das ist politisch und kein bisschen Propaganda.