Die Szene war bezeichnend, auf eine Art. Bezeichnend für den Fotografen Roger Fritz, sein Selbstverständnis, sein Auftreten, sein Agieren – eher im Hintergrund. Der Ort des Geschehens: die Gaststätte Franziskaner in München, 1. Stock. Der Anlass der Veranstaltung: eine Buchpräsentation. Das Buch: ein von Roger Fritz exklusiv illustrierter Bildband mit dem etwas boulevardesken Titel Extrem Bayrisch. Den begleitenden Text hatte der Kabarettist Ottfried Fischer geschrieben. Und während dieser vor Publikum und Journalisten Anekdoten wiedergab und Lacher stumilierte, kaute Roger Fritz irgendwo im Eck an seiner Weißwurst. Nicht dass sich Fritz seiner Bedeutung als fotografierender Künstler nicht sicher gewesen wäre. Aber gerieren mochte er sich nicht. Er war kein Mann ausgreifender Gesten, kein Mann großer Worte, keiner, der eine Theorie vor sich hergeschoben hätte. Eher ein rastloser Arbeiter im Weinberg der Kultur, der allerdings nie so recht wusste welcher Rebsorte er sich letztlich verpflichtet fühlen sollte. Bilanzierend könnte man sagen: Der Wahlmünchner Roger Fritz war und blieb der unbekannteste Bekannte unter den zeitgenössischen deutschen Fotografen.
Roger Fritz, diskreter Beobachter mit der Kamera:
hier bei seiner Ausstellung „Der bewegte Mensch“
im Münchner Verkehrsmuseum.
Was Fritz mit Sicherheit war: Ein Multitalent, dazu gutaussehend, stets jugendlich wirkend, bemerkenswert vernetzt und zeitlebens auf allen möglichen Gebieten unterwegs. Bei Roger Fritz waren dies: die Fotografie, die Regieassistenz, die Filmregie und -produktion, die Schauspielerei, die Zeitschriftenarbeit, das Büchermachen und schließlich seine Tätigkeit als stadtbekannter Münchner Gastronom. Wobei sich bei Fritz die Interessen überlappten, ergänzten, wechselseitig beeinflussten. Wenn ihn etwas auszeichnete, dann eine Art unstete und nimmermüde Neugier.
Kaum hatte sich der 30-jährige Fritz in der Fotografie einen Namen gemacht, wechselte er in den Film. Kaum hatte er in Film und Fernsehen Fuß gefasst, kehrte er zur Fotografie zurück. Fritz war Darsteller (nicht selten Hauptdarsteller) in rund hundert Film- und Fernsehproduktionen. Als Regieassistent arbeitete er mit Luchino Visconti und Gian Carlo Menotti. Für Sam Peckinpah wirkte er als Second Unit-Regisseur und, nachdem Helmut Griem ausgefallen war, gleich als Schauspieler dazu. Für Rainer Werner Fassbinder stand er vor der Kamera. Mit ihm, Klaus Lemke und Eckhard Schmidt zählte er, gewissermaßen, zur Münchner Sektion des jungen deutschen Films.
Roger Fritz fotografiert Michael Koetzle, Autor dieses Nachrufs,
bei dessen Laudatio anlässlich der Vernissage der
Fritz Ausstellung im Münchner Verkehrsmuseum.
Roger Fritz wechselte die Genres wie die Rollen. Heute war er Profi vor, morgen Handwerker hinter der Kamera. Das eine bedingte, beeinflusste das andere. Der Film die Fotografie, die Fotografie den Film. Fritz oszillierte zwischen den Künsten. Der Markt freilich schätzt dergleichen so wenig wie das Publikum. Hier wie dort hält man es lieber mit denen, die sich in Schubladen unterbringen lassen. Schon Man Ray hatte darunter gelitten, nicht auch als dadaistischer Maler, sondern alleine seiner Fotografie wegen beachtet zu werden. Roger Fritz litt nicht wirklich. Er wusste, er war ein schlechter Verwalter seines Ruhms. Anders gesagt: Roger Fritz war Amateur auch in dem Sinne, dass er vor allem seine Sache, sein Metier, sein Ausdrucksmittel liebte. Letztlich dann doch die Fotografie, die der gelernte Baustoffgroßhandelskaufmann seit den späten 40er-Jahren autodidaktisch praktizierte.
Als Fotograf bekannt wurde Fritz, als er sich 1956 und 1958 eine Medaille beim Jugendfotowettbewerb der photokina sichern konnte. Mit Thomas Hoepker, Michael Friedel oder Christa Peters zählte er zum vielversprechenden deutschen Nachwuchs: eine informelle Truppe, deren Bildsprache sich deutlich unterschied von dem, was man ansonsten aus den bundesdeutschen Medien kannte. Auf der photokina, wurden ihre Arbeiten ausgestellt. Dort hatten auch die Werke der Gruppe fotoform um Otto Steinert Premiere, wurden die Bildschöpfungen namhafter Magnum-Fotografen präsentiert. Dass Fritz letztere gesehen, dass er hier gelernt hat, ist nicht auszuschließen, auch wenn er sich an konkrete Vorbilder nicht erinnern mochte. Höchstens an Henri Cartier-Bresson, dessen stilbildendes Buch Images à la sauvette in jenen Jahren die Fotowelt begeisterte. Und an Herbert List natürlich, den Fritz 1955 kennenlernte und dem er zeitweise assistierte. 1956 widmete List dem jüngeren Freund ein Exemplar seines Buches Licht über Hellas. Im selben Jahr hatte Roger Fritz seine erste größere Veröffentlichung in einer Zeitschrift. Der Weg des 1936 in Mannheim geborenen Roger Fritz in die Fotografie schien unumkehrbar.
„Eine Hand abzugeben“ erschien als inszenierte Bildgeschichte in Heft 9/1956 der gewerkschaftseigenen Jugendzeitschrift Aufwärts, was wenig spektakulär klingt. Aber man täusche sich nicht. Das großformatige Blatt zählte in jenen Jahren zum grafisch Besten, was der bundesdeutsche Magazinmarkt zu bieten hatte. Gestaltet wurde der Aufwärts von keinem Geringeren als dem jungen Willy Fleckhaus. Deutlich steht das Heft unter dem Eindruck des Schweizer Grafikdesigns. Bereits Fritz’ frühe Fotografie durfte sich also rühmen, vom Bekanntesten der Branche layoutet worden zu sein. Erzählt wird die Geschichte eines Mannes, der eine große, aus Pappe ausgeschnittene Hand durch München trägt. Die Story ist insofern atypisch für Fritz, als dieser eigentlich lieber beobachtet, als dass er inszeniert. „Ich provoziere auch nichts, wenn ich fotografiere“, hat Roger Fritz einmal bekannt. Im Übrigen hasse er es, wenn die Leute in die Kamera guckten.
Und dann der Paukenschlag: Im zehnten Jahr der Bundesrepublik kommt es zur Gründung einer wegweisenden Zeitschrift: twen. Die Nummer 1 erschien im April 1959, und Roger Fritz ist von Anfang an dabei. Mit Christa Peters, damals seine Lebensgefährtin, und später Will McBride wird er zum wichtigsten Ideengeber eines Magazins, das wie kein zweites Furore macht im Deutschland der ausgehenden 50er-Jahre. twen ist jung. twen ist frisch. twen ist anders – kompromisslos modern. Vor allem: twen ist provokant, Papier gewordener Aufstand der Jungen gegen die Alten. Erinnern wir uns: Noch regiert Konrad Adenauer. Eine in der Rückschau gern als „bleiern“ beschriebene Zeit. In dieses Klima platzt twen, buchstäblich. Wettert gegen Militarismus, Nationalismus, verkrustete Moral. Macht Front gegen einen neuerlichen Antisemitismus. Diskutiert über Abtreibung, „Wilde Ehe“, Homosexualität.
Andere tun das auch. Die linke Zeitschrift Konkret zum Beispiel, aber nicht auf diesem grafischen Niveau, für das einmal mehr Willy Fleckhaus steht. Vom Aufwärts hat er sich verabschiedet. Nun macht er twen: eine optische Sensation und bis heute die einzige deutsche Zeitschrift nach 1945, die international Beachtung fand. Um sich herum versammelte Fleckhaus ein junges, engagiertes Team. Autoren wie Klaus Bresser oder Charly Weiss. Illustratoren wie Heinz Edelmann, Hans Hillmann oder Günter Kieser. Fotografen wie Reinhart Wolf, Michael Friedel, Horst H. Baumann, Christa Peters oder eben Roger Fritz. Das erste Heft haben die beiden, Peters und Fritz, praktisch im Alleingang gestemmt. Auch in den Folgeheften ist Roger Fritz regelmäßig vertreten. Fritz fotografiert „Traumwagen“ – in einer an der damaligen Braun-Reklame geschulten nüchternen Bildsprache. Für twen bummelt er durch Hamburg oder Düsseldorf. Er porträtiert Romy Schneider, Hans Werner Henze, Paul Flora oder Sigi Sommer. Dessen intimes Porträt in twen 1/1959, „Meine 99 Bräute“ überschrieben, war Fritz’ vielleicht schönste Bildstrecke in twen. Eine Hommage an das Leben und die Liebe, an München und an das Spazierengehen.
Helga Anders, geschiedene Ehefrau von Roger Fritz mit Tochter Leslie Fritz,
die stolz ein Foto mit Ihrem berühmten Vater hochhält.
Foto: Heiner Hennninges, Edition memories – reloaded.
Zum letzten Mal fand sich der Name Roger Fritz in twen 11/1966. Ein Heft davor berichtete die Zeitschrift über Fritz’ Wechsel in den Film. Mittlerweile hatte er in Berlin die UFA-Nachwuchsschule besucht, in Italien (bei Visconti), in Amerika (bei Menotti) wichtige Erfahrungen gesammelt. Nun schickte er sich an, seiner Liebe zum Kino nachzugeben.
Fritz’ erste Produktion, Mädchen, Mädchen, kam 1967 in die Kinos. Es folgten Filme wie Jet Generation, Häschen in der Grube, Liebe in der Schule, Besuch auf dem Lande, Zwischen uns beiden. Bei deutschen wie internationalen Produktionen steht Roger Fritz als Schauspieler auch vor der Kamera. Hinzu kommt – bis Anfang der 80er-Jahre – die Regie bei zahlreichen Fernsehserien: Motiv Liebe, Unter einem Dach, Fall von Nebenan, St. Pauli Landungsbrücken. Film ist teuer. Film ist aufwendig. Film ist arbeitsteilig. Oder weniger elegant ausgedrückt: Zu viele reden mit. Fritz hat Ärger mit der ARD (oder war es das ZDF?), das ihm einen Film ohne Absprache umschneidet. Auf dem Rückflug von Hamburg trifft er auf Will Tremper. Der ist gerade dabei, für den Bauer Verlag eine neue Zeitschrift zu entwickeln. Tremper lädt Fritz zur Mitarbeit ein. Da habe er gesagt: „Du kommst mir gerade recht. Da mache ich mit.“
Die Fotografie hatte Fritz wieder. Mitte der 80er-Jahre ist er erneut bei seinem eigentlichen Medium angekommen. Zwar wird Trempers Zeitschrift nie das Licht der Welt erblicken. Aber die Reportagen, die Fritz für zahlreiche Nullnummern erarbeitet hatte, konnte er später dem Stern, der Quick, der Bunten andienen. Fritz wird zum Spezialisten für Sankt Moritz-Geschichten, für Ibiza-Geschichten, für München-Geschichten. Ein Kreis schließt sich mit dem Unterschied, dass Fritz jetzt in Farbe fotografiert. Man kann dies vorderhand technisch begründen. Die Farbe ist inzwischen billig, ausgereift, verfügbar. Nicht mehr nur die Bunte druckt in Farbe. Aber ist nicht auch die Welt bunter, farbiger geworden und der Ektachrome die adäquate Antwort auf eine insgesamt schillerndere Kultur? Im Übrigen schätzt Fritz die Herausforderung, die jetzt Farbe heißt. Den Wandel, der sich in Color ausdrückt. Farbig fotografieren bedeutet aber auch: anders sehen. Fritz bewältigt den Wechsel mit gewohnter Professionalität. Was seine Arbeiten verbindet, ist der genaue Blick auf die Gesellschaft – nachdenklich, sezierend, aber niemals zynisch. Stets verstand sich Roger Fritz als Geschichtenerzähler, dessen Botschaften zunächst nicht in Gestalt von Ausstellungen, sondern über auflagenstarke Zeitschriften ein Massenpublikum erreichten.
Eigentliches Thema bei Fritz ist der Mensch. Aber nicht nur der Mensch. Auch Tiere, Pflanzen, Landschaften, Strukturen, Stillleben finden sich in seinem überbordenden Archiv. Eine umfangreiche Serie ist dem faszinierenden Spiel des Wassers gewidmet. Ein Wasserglas hoch über Santorin darf als Hommage an Herbert List gewertet werden. Roger Fritz schulte sein Sehen an kleinen, häufig übersehenen Dingen. Er schätzte die visuelle Meditation, um sich gleich darauf wieder ins gesellschaftliche Leben zu stürzen. Fritz war nicht nur, aber auch Gesellschaftsfotograf, wobei die News-Bilder von einst inzwischen als historische Dokumente gelesen werden dürfen. Mit Roger Fritz blicken wir zurück auf das Deutschland der 50er- bis 90er-Jahre – ein staunenswertes Sittenbild. Entstanden ist das Gros der Aufnahmen im Illustrierten-Auftrag. Nur so komme man an die Dinge heran, so Roger Fritz’ Erkenntnis. Fritz blickte hinter die Kulissen. Im doppelten Wortsinn. Da gibt es zum Beispiel das Porträt eines gealterten Heinz Rühmann. Beispielhaft steht es für Fritz’ Kunst des leisen Psychogramms. Hofberichterstattung war das nicht. Eher zeugt es von teilnehmender Nähe.
So sehr Roger Fritz in der weiten Welt zuhause war, so sehr war letztlich München sein Zuhause, ein Biotop, dessen soziales Neben- und Miteinander Fritz wie kein Zweiter visuell erkundet hat. Was so entstand, buchstäblich über fünf Jahrzehnte, ist das facettenreiche Bild einer Stadt, die in seltener Dichte alles ist: reich und arm, schillernd und tumb, nobel und ordinär, warm und kalt, arrogant und jovial, weltoffen und kleinkariert, intellektuell und dumpf, spießig und schräg. Roger Fritz war Teil dieser Szene. Und hielt doch Abstand. Er kannte Gott und die Welt. Aber kannte sie ihn? Die „Fotocommunity“ jedenfalls hat sich nicht für ihn interessiert. Kein Museumsmann, der je den Weg in sein Archiv gefunden hätte. Entsprechend hat es eine größere Retrospektive, eine sein bemerkenswertes Frühwerk bündelnde Monografie nie gegeben. Immerhin soll Anfang 2022 bei Schirmer/Mosel ein Buch von Roger Fritz erscheinen. Sein an Vanity Fair geschulter, bezeichnender Titel: Boulevard der Eitelkeiten. Roger Fritz wird es nicht mehr signieren können. Am 26. November ist der „Starfotograf“ und „Tausendsassa“, wie die Münchner Presse titelte, überraschend verstorben.