Gestaltungsregeln für die Fotografie sind so wahr wie Aphorismen. Sie leuchten ein, wenn die Situation zutrifft, wobei in einer anderen, das Gegenteil stimmt. Beispiel: „Viele Köche verderben den Brei und Viele Hände sind der Arbeit schnelles Ende“.
Dieser Artikel möchte Sie motivieren, mehr in ein Bild zu packen, statt fokussiert oder mit Scheuklappen durch die Welt zu laufen ihre Vielfalt und Widersprüchlichkeit zu dokumentieren oder bestenfalls sogar künstlerisch umzusetzen. Kurz: diese Betrachtung ist ein Plädoyer für die narrative Fotografie in ihrer besten Form: das Wimmelbild!
Massimo Vitali: „Entering a New World“, Steidl Verlag.
Es klingt allzu verführerisch, der Aufforderung zu folgen, es der Sonnenuhr gleich zu tun und nur die schönen Stunden zu zählen. Wer mit seinen Bildern eine Aussage darüber machen möchte, was die Welt ausmacht, sollte es statt mit Weglassen einmal mit Weitblick versuchen, seinen Blick schweifen lassen und Motive in Fotografien verwandeln, in denen die Betrachter auf Entdeckungsreise gehen können und die Welt so erleben, wie sie sich uns präsentiert.
Nein auch solche Fotografien zeigen nie das wahre Leben oder die ganze Wahrheit sondern wie alle anderen auch nur einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit. Aber muss dieser immer so selektiv sein, so eng, so klein und möglichst von hoher Ästhetik?
Fotografen, die mit Scheuklappen durch die Welt gehen und sich darüber beklagen, dass notwendige Maßnahmen zum Erhalt unserer Welt, ihr ursprüngliches Aussehen zerstören, die Atomkraftwerke fordern, um auf Windräder verzichten zu können, haben den Sinn der Natur und unseren Lebensraum missinterpretiert: Die wilde Schönheit unberührter Natur setzt im weitesten Sinne die Abwesenheit von Menschen voraus. Wildtiere müssten keine Funkhalsbänder oder Fußringe sowie andere ihrem Schutz dienenden Maßnahmen ertragen, wenn ihr Lebensraum nicht bedroht würde.
Auch Naturfotografen haben kein verbrieftes Recht auf eine unberührte Natur, wenn diese nach Schutzmaßnahmen schreit! Und die Frage sei gestattet: welche Fotografie beeindruckt mehr, welche hat mehr Wirkung: die Eisbärenmutter, die mit Ihren Jungen tollt und einen „Radio Collar“ trägt oder jene Bärenfamilie, die uns herzanrührend eine intakte Welt vorgaukelt, wobei sie Horden von in Spezialfahrzeugen herangekarrte Fotografen – aufgestellt in Reih- und Glied – aus sicherer Distanz oder aus dem Fahrzeugfenster fotografieren?
Die Kunst des Weglassens feiert seit jeher in der bildenden Kunst fröhliche Urständ. Wimmelbilder in denen der Blick der Betrachtenden sich verlieren kann, um immer wieder Neues zu entdecken, das sich am Ende zu einer Fotografie zusammenfügt, die mehr als die Summe ihrer Details ist, sind eine rare Ausnahme. Vermutlich weil es mit jedem zusätzlichen Objekt im Motiv schwerer wird, diese für eine ansprechenden Fotografie in Beziehung zu setzen.
Haben sich Fotografen früher beim Weglassen auf ihren Bildausschnitt konzentrieren müssen und etwa störende Verkehrsschilder durch Änderung des Aufnahmestandortes oder aufwändiger durch den Einsatz von Shift-Objektiven aus dem Foto verbannt, so lassen sich störende Objekte heute einfach mithilfe entsprechender Bildbearbeitungsprogramme austauschen. Ganz nach dem Motto: Was nicht in die Vorstellung gelernter Ästhetik passt, wird passend gemacht. Und wenn es der Himmel sein soll.
Von der Theorie zur Praxis
Warum aber fällt es selbst vielen großen Künstlern so schwer, Motive mit vielen Objekten und Personen in aussagekräftige Fotografien umzusetzen. Der häufigste Grund ist vermutlich der Wunsch nach einem schnellen Ergebnis. Wer viel in einem Bild zeigen möchte, braucht viel Zeit sich mit der Komplexität einer Szene auseinanderzusetzen und vertraut zu machen. Wahl von Zeit, Licht, Aufnahme Standpunkt und Bildwinkel verursachen bei detailreichen Motiven mehr Aufwand als eine Close-Up-Fotografie. Das demonstrieren Beispiele aus der Malerei recht einleuchtend: der Aufwand für die großformatigen Schlachtengemälde oder Gruppenbilder war sicherlich deutlich höher als der für die nicht weniger berühmten Porträts wie dem Mann mit dem Goldhelm von Rembrandt oder dem Mädchen mit dem Perlenohrgehänge von Vermeer.
Auch wenn sie immer seltener werden: Es gibt sie die großartigen Fotokünstler, deren Werke durch die Vielzahl in Beziehung gesetzter Elemente begeistern. An vorderster Stelle drängt sich beispielsweise Andreas Gursky auf mit seiner Arbeit der Berglandschaft „Albertville 1982“ zu finden auf seiner Webseite. Aber auch Fotografen wie Massimo Vitali mit dem Buch „Entering a New World“, Lars van den Brink oder Pelle Cass liefern Beispiele dafür, dass das Wesentliche einer Bildgestaltung auch die Vielfalt sein kann. Was in detailreichen Fotos stört? Überflüssige Details!