Der sinnliche Gestaltungswille lateinamerikanischer Kreativität schlägt sich in der Welt der alljährlichen Preisverleihung des New York Art Director’s Club in zahlreichen Cubes, den Trophäen für richtungsweisende Arbeiten nieder. Dieser Instinkt für Licht, Form, Farbe geformt aus einfühlsamer Poesie und praller Lebenslust ist – ja: überaus sexy!
Marcos López – Pop Latino
Foto Marcos López
Aber liest und seht selbst. „We proudly present beim Festival in Baden: Marcos López!“ – schwärmt Lois Lammerhuber beim Telefoninterview. „Seine Farben erinnern an Martin Parr, sein Humor an Peter Dench, und seine Bildsprache lässt bisweilen an Andy Warhol denken“.
Anders gesagt: Marcos López fand zu seinem Beruf, nachdem er bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1978 die Fotografen begleitet hatte, die von dem Ereignis berichteten. In den Bildern der Serie „Pop Latino“, die zu seinen bekanntesten Arbeiten gehört, kollidieren Popkultur, amerikanische Kultur und alle Arten von Klischees über Lateinamerika.
Foto Marcos López
In dieser Serie präsentiert López eine originelle und surreale Auffassung unserer Lebenswelt, eine heitere und beißende Kritik unserer Konsumgesellschaft und der Moderne. „Ich dokumentiere die Wirklichkeit, indem ich sie inszeniere“, erklärt er. „So wie es Glauber Rocha im Sertão im Nordosten Brasiliens gemacht hat. Ich nehme die feuchte Pampa in Beschlag und verwandle sie in eine Bühne. In ein Theater. Von den Schauspielern verlange ich, dass sie meine persönlichen Ängste darstellen. Ein Argentinien aus Pappmaché.“
Foto Marcos López
Doch López’ Werk verweist auch auf eine ganze Weltgegend: auf Lateinamerika. Auf seine Gründungsmythen, aber auch und vor allem auf seine Bruchstellen. Die Bilder wirken wie Zerrspiegel, in denen Maßlosigkeit und entlarvender Kitsch ineinanderfließen. „Ich gehe von einem Gefühlszustand aus und gebe etwas Lokalkolorit hinzu, wie ein gesellschaftlicher und politischer Chronist meiner eigenen Arbeit“, erklärt López.
Das Ergebnis sind Szenen in leuchtenden Farben, die – durchaus ironisch – ein Lateinamerika zeigen, das am Tropf des American Way of Life hängt. „Ich übertreibe gern“, wird López nicht müde zu betonen, der zugleich provoziert und beobachtet, gezielt Heiliges und Profanes vermischt und inmitten der ausgesprochen frommen Gesellschaft Südamerikas die großen religiösen Bilder neu interpretiert. Doch unter dem glänzenden Lack der Limonadenflaschen, der muskelbepackten Bodybuilder und der kessen Modepüppchen leuchtet noch eine andere Wahrheit auf: die der kulturellen Verarmung durch die alles beherrschende Dampfwalze der Konsumgesellschaft, die auf ihrem Weg blindwütig alles Menschliche gleichmacht. López’ Werk ist leicht zugänglich, entfaltet jedoch eine Komplexität, die mehrere Lesarten, sei es soziologischer oder philosophischer Natur, erlaubt.
Cássio Vasconcellos „Jenseits der Wirklichkeit“
Foto Cássio Vasconcellos
Dieser Erzählkraft steht Cássio Vasconcellos mit seiner Werkserie „Jenseits der Wirklichkeit“ in nichts nach. Verblüffende Bilder sind es, die uns der brasilianische Fotograf präsentiert. Zum Glück zeigen die meisten von ihnen nicht die Wirklichkeit. Wie etwa die verwirrende Aufnahme eines imaginären Rollfelds mit einem surrealen Gewirr aus 250 Flugzeugen, das möglicherweise auf eine alptraumhafte Zukunft verweist. Heute denken wir dabei an Bilder von Flughäfen, vor denen sich Flugzeuge aneinanderreihen, die zum Stillstand verurteilt sind, weil der Reiseverkehr wegen der CoronaPandemie weltweit zum Erliegen gekommen ist. Vasconcellos versucht in seinen Arbeiten, die schwindelerregenden Zahlen der modernen Welt zu veranschaulichen.
Foto Cássio Vasconcellos
Ein anderes Foto aus der Serie Kollektive zeigt 50 000 Autos, aufgestellt in Reih und Glied. Ein Anblick, der sprachlos macht – in Baden auf 16 Meter mal 4 Meter zu sehen – und dabei entspricht diese Menge gerade einmal einem Prozent der fünf Millionen Fahrzeuge, die auf den Straßen von São Paolo, in Vasconcellos Geburtsstadt, unterwegs sind.
Seinen apokalyptischen Visionen einer von Maschinen beherrschten Welt stellt Vasconcellos eine Serie monochromer Aufnahmen des brasilianischen Urwalds gegenüber, die von den Radierungen inspiriert sind, die der Comte de Clarac, ein französischer Archäologe und Gelehrter, in den 1820erJahren geschaffen hat.
Foto Cássio Vasconcellos
In dieser Serie, eine pittoreske Reise durch Brasilien, präsentiert sich der Fotograf in zwei Rollen: als Umweltaktivist, der mit wissenschaftlicher Präzision die tropischen Ökosysteme in ihrer ganzen Verletzlichkeit und Vielfalt präsentiert, sowie als Künstler, der uns die Schönheit und die sanften Farben des Waldes vor Augen führt. In Zeiten, in denen die Wälder unseres Planeten immer wieder in Flammen aufgehen, ruft uns diese Arbeit in Erinnerung, welche Bedeutung das Amazonasbecken für das Überleben der Menschheit hat, und wie wichtig es ist, allen Menschen die majestätische Schönheit und die Zerbrechlichkeit der Urwälder bewusst zu machen. In diesen an Lithografien erinnernden Bildern mit ihrem Detailreichtum und ihren Hell-DunkelKontrasten scheinen die Magie und das unergründliche Geheimnis dieser tropischen Weltgegend auf.
In Baden sind zwei Serien von Vasconcellos zu sehen, die auf den ersten Blick in Kontrast zueinander stehen, im Grunde jedoch aufeinander antworten. Bilder, die uns unmittelbar in den Naturraum einer anderen Zeit transportieren, als wollten sie belegen, dass diesem Raum die Auslöschung droht. Bilder, die unsere moderne Welt in Frage stellen – eine industrialisierte, entmenschlichte und zunehmend außer Kontrolle geratene Welt.
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