Oskar Barnack an seinem Arbeitsplatz mit der Ur-Leica.
Rund 75 Jahre nach der Erfindung der Fotografie legte der Feinmechaniker Oskar Barnack aus der Entwicklungswerkstatt der Firma Leitz den Grundstein für einen Paradigmenwechsel, der dem in die Jahre gekommenen Medium völlig neue Sehweisen und Stilrichtungen ermöglichte. Ein Eintrag im Werkstattbuch belegt die Fertigstellung des ersten funktionstüchtigen Modells einer kompakten Fotokamera für Kinofilme als Aufnahmematerial.
Oskar Barnack, Flut in Wetzlar, 1920 © Leica Camera AG
Kriegsbedingt sollte sie erst elf Jahre später auf den Markt kommen. Aber bereits die ersten Prototypen und die im März 1914 fertiggestellte ‚Ur-Leica‘ haben ihre Anwender erleben lassen, dass hier ein das Medium Fotografie gravierend veränderndes fotografisches Präzisionswerkzeug geschaffen wurde, das die Art und Weise des Bildermachens von Grund auf umkrempeln würde. Wir fragten den Kurator der Ausstellung Hans-Michael Koetzle, warum diese kleine Kamera, die ganze Welt der Fotografie so nachhaltig verändern konnte.
1914 von Oskar Barnack fertiggestellte Ur-Leica.
dasfotoportal: Herr Koetzle, als Oskar Barnack nach 1914 seinem Chef und anderen Firmenmitarbeitern die erste Leica oder auch einen der in den elf Jahren danach entstandenen, weiteren Prototypen mit auf ihre Spaziergänge in der Umgebung von Wetzlar oder auch auf ihre Reisen, etwa nach New York, mitgab – deutete sich damals schon an, dass er hier eine Revolution der Fotografie ihren Anfang nahm?
H.-M. Koetzle: Ja, das ist auch der Schlüssel, der die Ausstellung in dieser noch nie dagewesenen Breite legitimiert. Die Leica hat tatsächlich ab 1925 die Fotografie in ihrer Bildsprache revolutioniert. Dazu muss man wissen, dass die technische Beschaffenheit dieser kleinen Leica Kamera eben eine neue Art des Fotografierens provozierte.
Bereits 1914 machte Ernst Leitz II diese Aufnahme in New York mit der Ur-Leica.
dfp: Was war denn das Andere, das Neue an dieser Kamera?
Hans-Michael Koetzle: Im Vergleich zu fast allen anderen serienmäßig gebauten Aufnahmegeräten am Markt war die Leica klein. Die erste Kamera wog gerade einmal 425 Gramm und mit dem versenkbaren Elmar Objektiv passte sie in jede Manteltasche. Das heißt: Man hatte sie dabei! Auch wenn man nicht unbedingt auf Fotografieren eingestellt war. Der Zufall spielte erstmals eine Rolle beim Fotografieren.
dfp: Wie ist das zu verstehen?
Hans-Michael Koetzle: Früher hatte man die Kamera eingepackt, um beispielweise eine Landschaft ein Gebäude oder eine Person zu fotografieren. Ab jetzt hatte man die kleine Kamera dabei und war praktisch gewappnet für das Unvorhergesehene. Zudem hat der Kinofilm das sequentielle Fotografieren ermöglicht, also mehrere Bilder in kurzer Folge aufzunehmen. Zusätzlich hat diese kleine Kamera dazu geführt selbst dynamischer zu fotografieren. Man konnte sogar aus der Bewegung heraus fotografieren. Die Kamera wurde Teil des Körpers. Das war alles neu und hat zu einer neuen Bilderwelt geführt, die wir jetzt versuchen zu dokumentieren.
dfp: Wo sehen Sie denn den Beginn des Umbruchs 1914 mit der Fertigstellung des ersten Prototyps oder 1925 mit der Markteinführung der Leica?
Hans-Michael Koetzle: Unsere Dokumentation beginnt 1914. Denn schon Oskar Barnack, der Erfinder der Leica, war ein ambitionierter Fotograf und hat mit seinen ersten Aufnahmen viel davon vorweggenommen, was dann die Avantgarde der ersten Anwender 1925 umgesetzt hat. Barnack hat im Grund schon ein komplettes Bildprogramm der Moderne erstellt.
Oskar Barnack: Flut in Wetzlar, 1920 © Leica Camera AG
dfp: Wird diese Vorwegnahme einer Bildrevolution durch Oskar Barnack auch in der Ausstellung deutlich werden?
Hans-Michael Koetzle: Wir haben im Leica Archiv etwa 200 Negative, die genau diese Positionen belegen. So hat Oskar Barnack beispielsweise schon 1914 mit der allerersten Leica, der Ur-Leica – er nannte sie damals ‚Lilliput Kamera‘ – aus einem Zeppelin heraus fotografiert – in der Art wie es später dann ein Rodtschenko oder Moholy-Nagy geradezu gepredigt haben. Er hat 1920 ein Hochwasser in Wetzlar als klassische Reportage in ganz dynamischen Bildern umgesetzt mit Anfang, Mitte, Schluss. Er hat seine Kinder fotografiert in einer so lebendigen Art wie es das vorher eigentlich nicht gab. Wenn man die Studioporträts der Gründerzeit anschaut, wo die Kinder brav und unbeweglich in ihren Matrosenanzügen stramm standen, sind Barnacks Fotos dagegen hoch dynamisch. Er hat damals in seinen Fotografien viel vorweggenommen, was dann ab 1925 Wirklichkeit wurde.
dfp: Es wird ja häufig berichtet, dass die Qualität der ersten Leica Fotos zu wünschen übrig gelassen habe und die Negative kaum Abzüge größer als eine Postkarte zugelassen hätten. Wie konnte sich die kleine Kamera dennoch so schnell durchsetzen?
Hans-Michael Koetzle: Man muss eines sagen: Es gibt ja immer noch den Mythos, die Leica sei von den damaligen Fotografen als Kinderspielzeug abgetan und nicht ernst genommen worden. Das stimmt definitiv nicht. Bereits die allererste Rezension von Frerck im Photofreund 1925 im Moment der Einführung war ein Hymnus auf dieses technische, feinmechanische Wunderwerk mit einem eigens gerechneten Objektiv.
Ilse Bing: Selbstporträt in Spiegeln, 1931 © Leica Camera AG
dfp: Es gab doch aber auch kritische Stimmen, die sich an den grobkörnigen Bildergebnissen störten.
Hans-Michael Koetzle: Man hatte die technologische Qualität erkannt. Das Problem waren tatsächlich die Filme. Das waren konfektionierte Kinofilme, die noch nicht die Auflösung und Lichtempfindlichkeit hatten. Das Filmmaterial war also das Nadelöhr. Es bestand also das Problem, dass die Filmindustrie nicht nachgesetzt hätte, wenn die Kamera kein Erfolg gewesen wäre.
dfp: Nun gab es hinsichtlich des Filmmaterials auch einige frühe Glücksfälle, die zu besseren Bildern führten?
Hans-Michael Koetzle: Ja, Paul Wolf ist ein gutes Beispiel dafür, er hat durch Zufall die Formel für Feinkornentwicklung „Belichte reichlich, entwickle kurz“ gefunden und so auch Großvergrößerungen von Leica Aufnahmen ermöglichte. Er hatte in eigenen Ausstellungen mit Vergrößerungen im Format 40 x 60 cm Abzüge gezeigt, um zu demonstrieren das es tatsächlich möglich war große Abzüge von diesem kleinen Negativ herzustellen.
dfp: Wie wichtig war das für die Durchsetzung der Kamera?
Hans-Michael Koetzle: Man muss natürlich wissen, dass Presse-Abzüge traditionell 13 x 18 cm oder 18 x 24 cm groß waren. Das war auch nicht riesig aber natürlich wollte man zeigen, was in der Kamera drin steckt. Das ist wie beim Auto. Man fährt nicht unbedingt 250 Km/h aber wenn man weiß, dass ich diese Reserve habe, macht das schon was her. So hat man auch bei Leica versucht, dieses Vorurteil zu überwinden.
Robert Lebeck: Der gestohlene Degen, Belgisch Kongo, Leopoldville, 1960
© Robert Lebeck/ Leica Camera AG
dfp: Wieso war das so wichtig?
Hans-Michael Koetzle: Angesichts der Plattenkameras mit ihren Format bis zu 24 x 30 Zentimetern war das Kleinbildnegativ praktisch nichts. Das Geniale an Barnacks Erfindung aber war, dass er praktisch die Kamera um den Kinofilm herumgebaut hat. Seine Idee war, die Kamera so klein wie möglich zu halten, um zunächst erst einmal nur hinzubauen, was ging. Das Problem der nachfolgenden Contax von Zeiss war dann, dass hier erst einmal ein Pflichtenheft erstellt wurde und dann die Kamera gefertigt, die dann immer größer wurde. Bei der Leica versuche man erst später nach und nach alle möglichen Features zu integrieren, ohne das sie entscheidend größer wurde.
dfp: Wie war es denn möglich, dass ein Newcomer wie Leitz im Kamerabau mit dem Platzhirschen Carl Zeiss überhaupt mithalten konnte?
Hans-Michael Koetzle: Zeiss war damals ein Gigant auf dem Fotomarkt. Leitz war traditionell ein Hersteller von Mikroskopen. Es war also schon ein Wagnis, sich auf dieses Feld zu begeben, zumal die Leica ja auch eine Peripherie brauchte. Man benötigte eine Entwicklungstrommel, ein Vergrößerungsgerät, später auch Wechseloptiken, Kleinzubehör für die Filmkonfektionierung und so weiter. Es stellte sich wirklich ernsthaft die Frage, ob man auf einem so stark von Zeiss besetzten Markt überhaupt als mittelständiges Unternehmen in der hessischen Provinz eine Chance hatte zu reüssieren. Man brauchte spezielle Fertigungsräumlichkeiten, Maschinen, ein Konzept für den Vertrieb: Das waren alles ernstzunehmende Risikofaktoren. Wenn heutige Unternehmer häufiger so weitsichtig denken würden, in Sachen Innovation, dann wäre so manches Unternehmen der Branche nicht einfach abgewickelt worden.
Ulrich Mack: Wildpferde in Kenia, 1964 © Ulrich Mack, Hamburg / Leica Camera AG
dfp: Von den ersten Ideen zur Kleinbildkamera, die Oskar Barnack ja schon früher als er noch bei Zeiss beschäftigt war, gehabt haben soll bis zur Entscheidung, sie zu bauen 1924 und der Vorstellung 1925 ist allerdings auch eine lange Zeit vergangen. War die Kamera vielleicht auch deswegen bei ihrer Einführung schon so ausgereift?
Hans-Michael Koetzle: Schon bei der Vorstellung 1925 auf der Leipziger Frühjahrsmesse erntete die Leica hymnische Vorschusslorbeeren. Wir wissen dass sich beispielsweise dort bereits Moholy-Nagy seine erste Leica gekauft hat und auch Walter Bosshard, der große Pionier des Bildjournalismus. So sind doch einige Fotografen schon sehr früh in die Leica Fotografie eingestiegen und als es dann möglich wurde, Objektive zu wechseln, war der Durchbruch geschafft.
Fred Herzog: Man with Bandage, 1968. Courtesy of Equinox Gallery, Vancouver © Fred Herzog, 2014
dfp: Ab wann hat denn die Filmindustrie auf diese neue Nachfrage reagiert und konfektionierte Filme geliefert?
Hans-Michael Koetzle: Das begann Anfang der 30er Jahre mit Firmen wie Perutz, Agfa und Kodak, die dann auch anfingen mit Blick auf dieses Segment zu forschen. Sie haben das Filmmaterial feinkörniger und lichtempfindlicher gemacht und den Film dann auch in vorkonfektionierten Kleinbildpatronen auf den Markt gebracht. Bis dahin mussten Leica Fotografen den Kinofilm in spezielle, lichtdichte Messingpatronen füllen und auch die Filmzunge selbst zuschneiden. Die dazu benötigten Bestecke zeigen wir übrigens auch in unserer Ausstellung.
dfp: Es werden dort also nicht nur die Fotografien der 100-jährigen Leica Geschichte, sondern auch die fotografischen Geräte in ihrer Entwicklung gezeigt?
Hans-Michael Koetzle: Wir zeigen ganz bewusst Hardware aus der Anfangszeit: also die Ur-Leica und auch den allerersten Vergrößerungskasten der nur für das Postkartenformat reichte. Wir zeigen auch den allerersten Vergrößerer, eine Entwicklungstrommel und eine dieser Filmdöschen mit der die Leica bestückt wurde, sowie die ganzen Bestecke samt Filmspule, damit der Besucher eine Vorstellung hat, was der ambitionierte Amateur, der sich für die Leica interessiert hatte, gebraucht hat. Denn nur daraus erschließen sich auch die Bilder, die wir als Ausstellungsschwerpunkt zeigen werden.
Jeff Mermelstein: Sidewalk, 1995 © Jeff Mermelstein
dfp: Also bekommt der Besucher durch die ausgestellten Geräte ein besseres Verständnis für die Bilder?
Hans-Michael Koetzle: Nehmen wir das Beispiel George Grosz, den Maler, der damals mit seiner Leica nach Amerika fuhr und dort fotografiert hat. Das sind Bilder von einer solchen Dynamik und einer so kühnen Bildsprache, da muss man einfach wissen, wie klein die Kamera sein musste, um zu diesen Bildern zu kommen. Da kann man schnell von oben nach unten oder umgekehrt fotografieren, da beugt man sich über die Reling eines Schiffes und fotografiert. Das sind Bilder, wie sie zuvor nicht gemacht werden konnten. Die Möglichkeit, die Kamera vor das Gesicht zu halten und an sich zu drücken, mit dem Körper zu agieren, das war neu und hat die Bildsprache verändert.
dfp: Die technische Innovation der Leica lieferte also die Basis für eine neue Bildsprache?
Hans-Michael Koetzle: Allein die Möglichkeiten, kürzere Belichtungszeiten zum Einfrieren von Bewegungen nutzen zu können oder umgekehrt mit der kleinen Kamera längere Belichtungen ohne Verwacklung für Aufnahmen aus der Hand einsetzen zu können, haben die fotografischen Ausdrucksmöglichkeiten deutlich erweitert.
dfp: Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Hans-Michael Koetzle: Nehmen sie nur Robert Frank, der in schummrigen Diskos in den 50er Jahren mit seiner Leica mit offener Blende und 1/30 Sekunde seine Fotos gemacht hat, die heute noch eine einzigartige Atmosphäre ausstrahlen. Die Leica Revolution geht praktisch durch das gesamte 20. Jahrhundert. Sie reicht im Grund bis in unsere Tage, in denen große Fotografen die Kamera immer gegen die Gebrauchsanleitung verwenden und dadurch zu unglaublichen Bildern kommen. Diese Bilder aus 100 Jahren Leica Fotografie und ihre Hintergründe wollen wir in der Ausstellung zeigen.
dfp: Herr Koetzle, Danke für diese spannende Einführung in diese großartige Ausstellung!
Titelbild des Begleitbuchs zur Ausstellung: Christer Strömholm. Nana, Place Blanche, Paris 1961.
© Christer Strömholm/Strömholm Estate, 2014.
Augen auf! 100 Jahre Leica Fotografie – Das Buch zur Ausstellung
Anstelle eines Kataloges gibt es ein im Kehrer Verlag erschienenes Belegleitbuch zur Ausstellung mit über 500 Seiten mit dem Titel „Augen auf! 100 Jahre Leica Fotografie“ herausgegeben von Michael Koetzle mit Texten von Gabriel Bauret, Alejandro Castellote, Michael Ebert, Peter Hamilton, Anton Holzer, Thomas Honickel Hans-Michael Koetzle, Franziska Mecklenburg, Rebekka Reuter, Ulf Richter, Christoph Schaden, Emilia Tavares, Enrica Viganò, Bernd Weise, Thomas Wiegand.
Gestaltung: Detlev Pusch
Das Buch enthält über 800 Abbildungen
Preis: 68 Euro
Wilfried Bauer, Aus der Serie »Hongkong«, 1985, ursprünglich erschienen im FAZ-Magazin # 307 vom 17.01.1986 © Nachlass Wilfried Bauer/Stiftung F.C. Gundlach