© 2019 Miguel Rio Branco
Ähnlich auch die Anblicke, die sich jenseits historischer Wahrzeichen, imponierender Skylines und großer architektonischer Gesten in den austauschbaren urbanen Leerstellen und aufgegebenen Vierteln, auf den Abseiten und an den Peripherien bieten. Hier findet sich all das, was die Stadt ausgeschieden hat: Gescheiterte Menschen, Müll, ungeregelte Existenzen, Rost, Verfall, Improvisiertes und Provisorisches, überlagert vom Miasma der Perspektivlosigkeit aus Fäulnis, Schweiß, Urin, Blut, Abgasen und verdorbenem Frittierfett. Eine Duftmarke, die sich nicht nur auf Schwellen- und Entwicklungsländer beschränkt. Dazu sagt der Kurator und Kritiker Paulo Herkenhoff in seiner Einführung in den im Taschen Verlag, Köln, erschienenen Bildband: „Es geht darum, den Blick zu öffnen, tief in die Seele hineinzuschauen, Augenblicke einzufangen, die vergehen und bleiben.“
© 2019 Miguel Rio Branco
© 2019 Miguel Rio Branco
In „Maldicidade“, deutsch etwa „auf der Schattenseite der Stadt“, richtet Miguel Rio Branco, der in Rio de Janeiro ansässige Fotograf, Maler, Filmemacher und Multimediakünstler, die Kamera auf diese Nebenschauplätze im urbanen Raum: Auf Obdachlose, Bettler, Prostituierte, streunende Hunde, zertrümmerte Autos, Einschusslöcher, Straßenverkäuferinnen, fliegende Händler, Hinterhöfe und eingeschlagene Scheiben – Sujets, die Stadt nicht als Möglichkeitsraum für Mannigfaltigkeit und komplexe Erfahrungen zeigen, sondern als Ort des Scheiterns und der Gleichgültigkeit. Ob er diese Szenen in New York, Havanna, Salvador de Bahia, Tokio oder anderswo gefunden hat, bleibt dabei ohne Belang: Die Fotografien, die nur spärlich kommentiert oder in einen erklärenden Kontext gerückt werden, sind auf leichtem Papier zumeist doppelseitig im Format 47×33 cm sorgfältig zu einer einzigen Sequenz angeordnet, in der eine universelle Stadt wiederzuerkennen ist. Ähnlich der Arbeit eines Cutters arrangiert Rio Branco die Abfolge der Bilder nach rhythmischen Kriterien und gruppiert einzelne Motive – verfallene Gebäude, einsame Gestalten, demolierte Karosserien – , Farben – satte Rottöne, staubiges Rosa, kräftiges Weiß und Blau – und Formen – ein am Boden liegender Obdachloser neben der Skulptur eines Heiligen in ekstatisch-verzücktem Zustand – zu sinnträchtigen Mustern. Nur gelegentlich unterbricht er diesen Fluss mit Aufnahmen, die dem Betrachter eine Atempause zwischen all dem Elend und Unglück zu versprechen scheinen, Bilder von lachenden Menschen oder tanzenden Paaren.
Der großformatige Band „Maldicidade“ – zugleich eindringlich in seiner Botschaft und lyrisch in seinem Arrangement – zeigt in eindringlichen Bildern einen radikal zersetzten, verelendeten urbanen Raum: Eine Welt, die sich anstrengt, alle Dystopien einzuholen und zu übertrumpfen, und in der dennoch Momente von Lebenswillen und Lebensfreude aufscheinen.
H.-G. v. Zydowitz
Miguel Rio Branco
Maldicidade
Mit einem Text von Paulo Herkenhoff
Text in Englisch, Portugiesisch, Deutsch, Französisch
464 Seiten
Format: 25,5 x 34 cm, Hardcover
Köln, Taschen Verlag
ISBN: 978-3-8365-7233-0;
Preis 60 Euro
