Die Fußball-WM 2014 im Stadion „Alte Försterei“ in Berlin. Es spielte Brasilien gegen Chile. Fans des Clubs Union Berlin hatten sich ihre eigenen Sofas ins Stadion gestellt und verfolgten dort die Spiele teils bis in die Nacht auf einer riesigen Videowand. Für das Foto stand ich angeseilt und vornübergebeugt auf der Kante des Stadiondachs. Beim Endspiel war das Betreten des Dachs, wegen eines Gewitters und Blitzgefahr, leider verboten. Hans-Jürgen Burkard
Hans-Jürgen Burkard, 1952 in Lahnstein geboren, arbeitete nach seinem Studium als Reportagefotograf zunächst für GEO, dann für den STERN, für den er viele preisgekrönte Reportagen vom Zerfall der UdSSR gestaltete, die heute als herausragende Beispiele des klassischen Fotojournalismus gelten. Nach seiner Heimkehr nach Deutschland fuhr er, einen dicken Stapel ausgedruckter Songtexte aktueller deutscher Popmusik auf dem Beifahrersitz mitführend, Tausende von Kilometern kreuz und quer durch die Bundesrepublik – eben ‚fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn‘.
Traditionelles Frühstück der „Roten Funken“, des ältesten Traditionscorps des Kölner Karnevals, morgens um 7 Uhr im Gürzenich. Eigentlich ist der Zugang für Fremde verboten. Ich fing also kurz vor der Eingangstür eine belanglose Unterhaltung mit einem „Funken“ an, als dieser gerade den Bankettsaal betrat. Der Aufpasser an der Tür meinte deshalb, ich gehöre dazu, und als man bemerkte, dass da ein Fremder fotografierte, hatte ich mein Bild samt Flashcard schon in der Hosentasche. Der Rauswurf danach war sehr freundlich. Leider ohne Frühstück. Hans-Jürgen Burkard
Bei seiner Suche für ein fotografisches Porträt aktueller deutscher Zustände und Befindlichkeiten waren diese ihm Inspiration für Stimmungen und Situationen, die zu den Liedtexten passten: Ätzend, aber auch liebevoll und selbstbewusst – was verraten sie über das Land, was zeigt sich in ihnen? Dazu hat Hans-Jürgen Burkard Songtexte, wie ‚Mädchen von Kreuzberg‘ von Prinz Pi, ‚Rotlichtmilieu‘ von Haftbefehl, ‚Eppendorf‘ von Samy Deluxe oder ‚Hinterland‘ von Casper, in große Bilder übersetzt: frei, schräg, verstörend, fröhlich, rätselhaft – und in jedem Fall großartig.
Der „Indemann“, eine Aussichtsplattform auf der Abraumhalde eines Braunkohletagebaus im Dürener Land. Kurz nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, auf dem Weg zu meiner Familie, habe ich mich in einem Déjà-Vu mit Spielbergs Blockbuster „E.T.“ mit Schwarz-Rot-Gold verbunden. Hans-Jürgen Burkard
Die Zugspitze an einem Sommertag. Auf der Terrasse des Gipfelrestaurants hatte ich beobachtet, wie sich die Alpendohlen wie verrückt auf die Brocken eines Müsliriegels stürzten, der einem Alpinisten heruntergefallen war. Mit zwei Kilo Rosinen aus dem Supermarkt lockte ich am Tag darauf die Vögel vor die Kamera. Umschwirrt von Dohlen im Futterrausch, wurde ich für die vielen ausländischen Touristen zur Fotoattraktion. Sie riefen „Hey Hitchcock!“ oder „Look at the birdman!“. Hans-Jürgen Burkard
Seine Motive fand Hans-Jürgen Burkard an Dithmarschens Nordseeküste zwischen gestrandeten Walen ebenso wie auf dem urbayrischen Gäubodenfest in Straubing, am von Alpendohlen umflogenen Zugspitzgipfel, zwischen den Hinterlassenschaften der „Rock am Ring“-Besucher oder im Kölner Karneval: Widersprüche und Extreme, Aufschreien oder Verstummen, ein zärtlicher Blick auf eine fremd und zugleich vertraut empfundene Welt.
Eigentlich galt mein Interesse dem Auftritt von „Lady Gaga“, einer „Holstein-Friesian“-Superkuh der Vorjahre. Ich dachte, wenn etwas deutsch ist, dann diese Kuh. Aber, wie das so ist mit vermeintlichen Gewissheiten: So wie die echte Lady Gaga stammen auch 1,6 Millionen schwarz-weiße „Holstein-Friesians“ auf deutschen Weiden ursprünglich aus Amerika. Und so kürte ich im Sommer 2019 die „euterstarke“ „Deutsches-Fleckvieh“- Siegerin „Blüte“, Tochter des Bullen „Wichtl“, wegen ihres „starken Fundaments ohne Verbrauchserscheinungen“ und trotz ihrer bisherigen
schon „10 Abkalbungen“ zu meiner persönlichen Favoritin. Obwohl man den Haarausfall an ihrem Schwanz mit einer Kunstschwanzperücke fürs Foto aufhübschen musste. Hans-Jürgen Burkard
So, wie Liedermacher und Texter ihre Erzählungen aufbauen, so selektierte und fotografierte Hans-Jürgen Burkard gezielt seine Motive und baute sie mit den Songtexten zusammen – „ordnend ins Geschehen eingreifen“ nennt er das. Sich die Welt erklären, oder es zumindest versuchen: fragmentarisch, wie sie sich zeigt, keine zusammenhängende, logisch sich fortschreibende Geschichte, sondern ein Mosaik aus Blicken, Sekunden, Ewigkeiten, zusammengestellt in dem in der Edition Lammerhuber, Baden (A) erschienenen Bildband „An Tagen wie diesen“. Die Autoren haben dazu kurze Zitate aus den Liedtexten deutscher Musikgruppen oder Musikkünstler ausgewählt und diesen eine fotografische Auflösung gegenübergestellt. Jede immer auf einer Doppelseite gedruckte farbige Fotografie ist sowohl mit dem Namen der jeweiligen Band und des Textdichters sowie als Bildunterschrift mit den persönlichen Gedanken des Fotografen beim Entstehen der Aufnahme versehen.
Autorenporträt Hans-Jürgen Burkard © Martina Rüter
Die Stern-Reporterin Silke Müller schildert in ihrem einführenden Text anhand von Textbeispielen aus der deutschsprachigen Popmusik deren Entwicklung, beginnend 1974 mit Kraftwerk und endend mit Rammstein und den Toten Hosen. Peter-Matthias Gaede, der langjährige Chefredakteur von GEO und heute freier Autor, beschreibt in seinem das Buch abschließenden Text unter dem Titel „Photojournalism at its Best“ anhand etlicher von Hans-Jürgen Burkard bei seinen früheren Einsätzen entstandener Reportagen dessen hartes Leben als Bildjournalist.
H.-G. v. Zydowitz
Hans-Jürgen Burkard (DGPh)
An Tagen wie diesen
Texte: Silke Müller, Peter-Matthias Gaede,
Hans-Jürgen Burkard
224 Seiten, 111 Fotos
Format: 24×30 cm, Hardcover mit
„French Fold“-Schutzumschlag
Baden (A), Edition Lammerhuber
ISBN: 978-3-903101-39-5;
Preis 49,90 Euro
