Aus der Bilderserie If I were a German… © VG Bild-Kunst Bonn 2015
Boris Mikhailov wurde 1938 in Charkow, Ukraine, und erlernte die Fotografie auf autodidaktischem Weg. 1966 erhielt der diplomierte Ingenieur Boris Mikhailov den Auftrag, einen Kurzfilm über die Fabrik zu drehen, in der er arbeitete. Als er die Kamera auch privat nutzte und Aktfotos seiner Frau machte, verlor er seine Anstellung. Daraufhin widmete er sich ausschließlich der Fotografie. Heute zählt er laut der Kaiserringjury zu den bedeutendsten „Chronisten der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft“.
Eröffnet wird die Ausstellung im Eingangsbereich des Museums mit einem großen Triptychon aus der Werkserie „Promzona“, einer Industriezone, für die Boris Mikhailov 2011 im Donezbecken fotografiert hat. Zwei der bedeutendsten Werkserien von Boris Mikhailov zeigen die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Charkow entstandenen, dramatischen und düsteren Fotografien von „At Dusk“ (Dämmerung) aus dem Jahre 1993.
Die sich dort bereits manifestierenden sozialen Dystopien steigern sich zu apokalyptischen Dimensionen in den Bildern der „Case History“ (1997/98). Diese „Krankengeschichte“ hat Boris Mikhailov weltweit berühmt gemacht. Für sie hat der Künstler Obdachlose seiner Heimatstadt Charkow in zum Teil inszenierten Posen fotografiert, die sie zu Protagonisten eines christlich geprägten Passionsspiels machen.
Im Filmraum sind die „Sandwich“-Bilder vom Ende der 1960er Jahre in einem mit der Musik von Pink Floyd unterlegten Video zu sehen, in denen der Künstler durch Doppelbelichtungen zwei Diapositive – und mit ihnen zwei Motive –, so übereinander legt, dass die sozialistische Wirklichkeit poetisch überhöht oder surreal verfremdet wird. Beide Male sind es subversive Strategien.
Kolorierung als subversive Strategie kommt in den „Luriki“-Bildern zum Ausdruck (1971-1985), nur dass es sich bei ihnen nicht um selbst fotografierte Aufnahmen handelt, sondern um Bilder Dritter, die Mikhailov in deren Auftrag retuschiert und koloriert, um sich zu dieser Zeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
In einer Vitrine ist die eindrucksvolle Schwarzweißserie „Salzsee“ (1986) zu sehen, die am ehesten das Kriterium einer dokumentierenden Fotografie erfüllt. Nur, dass die Wirklichkeit selbst in Form badender, Erholung suchender Menschen inmitten einer düsteren Industrielandschaft so grotesk und disparat anmutet, dass sie bereits sozialen Sprengstoff birgt.
Aus der Bilderserie The Theater of War, Second Act, Time Out © VG Bild-Kunst Bonn 2015
Für die Werkserie „Tea, Coffee, Cappuccino“ (2000-2010) hat Boris Mikhailov nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums wieder in Charkow fotografiert und den Einzug westlicher Lebensformen dokumentiert. Das ist der Sinn des Titels der Arbeit. Wo der Ober im Sozialismus lediglich Tee oder Kaffe anbot, bietet er im Kapitalismus mantragleich nun auch Cappuccino an. Aber die neue Zeit bringt große Probleme mit sich. 2013 bei den Protesten auf dem Majdan in Kiew sind Boris Mikhailov und seine Frau Vita unter den Demonstranten. Sie fotografieren die Zusammenstöße mit der Staatsgewalt und veröffentlichen ihre Bilder unter dem Titel „The Theatre of War“ (2013). Ein Monumentalbild aus der Serie beschließt die Goslarer Ausstellung.
Mönchehaus Museum Goslar, Mönchestrasse 1, Goslar